Prof. Dr. Konrad Hilpert, Saarbrücken: Selbständiges theologisches Denken, Lehren und Lernen – an Schule und Universität

Vortrag auf der Tagung des Bundesverbandes Katholischer Religionslehrerinnen und -lehrer an Gymnasien

26.-28. Februar 1999, Trier

Vom 26.-28. Februar 1999 fand in Trier die Mitgliederversammlung des BKRG statt. Der folgende Vortrag von Prof. Dr. Konrad Hilpert aus Saarbrücken bildete den thematischen Schwerpunkt dieser Veranstaltung.

* Vortrag (Gliederung)

* I. Selbständiges theologisches Denken?

* II. Die Theologiestudierenden heute – aus der Wahrnehmung eines an der Universität Lehrenden

* III. Übergänge zwischen Theorie und Praxis

* IV. Förderung der Selbständigkeit im Studium

* V. Konturen einer Stärkung der Selbständigkeit des theologischen Denkens in der universitären Ausbildung der Zukunft

* Anmerkungen

Konrad Hilpert

Selbständiges theologisches Denken, Lehren und Lernen – an Schule und Universität

„Wie befähigt theologisches Studium und religionspädagogische Ausbildung dazu, selbstverantwortlich in den Spannungsfeldern von Schule und Gemeinde Theologie zu treiben und Schüler dazu zu bringen, selbst theologisch zu denken?“

Mit dieser Frage hat mir Ihr Vorsitzender das Thema umrissen, über das ich zu Ihnen heute sprechen soll.

Gefragt wird also nach dem Verhältnis von beruflicher Tätigkeit als Religionslehrer (bzw. Seelsorger) und der Ausbildung im Fach Theologie an der Universität, die ihr vorausgeht und die ja den Sinn hat, auf diese Tätigkeit hin zu qualifizieren. Diese Erwartung – man könnte sie auch als das Lehr- und Lernziel des Studiums charakterisieren – wird als „selbständiges theologisches Denken“ umschrieben. Ich unterstelle, dass der Anlass, diese Frage zu stellen, eine Differenzerfahrung ist, die Ausbilder von Referendaren und erfahrene Kollegen bei den jüngeren machen.

Ich kann Ihnen zu dieser Frage eigentlich nur etwas aus meinem eigenen subjektiven Sichtwinkel sagen. Denn einerseits gibt es zu dieser speziellen Frage, soweit ich erkennen kann, nur sehr wenig Literatur (1). Zum anderen bin ich kein Religionspädagoge, sondern von meinem Fach her Moraltheologe und Sozialethiker, sicherlich mit großem Interesse für die Praktische Theologie und die Arbeit des Religionsunterrichtens, die ich selbst eine Zeit lang praktiziert habe und vor der ich große Hochachtung habe. Aus beiden Gründen war ich ernsthaft versucht, diesen Auftrag hier bei Ihnen nicht anzunehmen oder nach einer Bedenkzeit wieder zurückzugeben. Was mich dann schließlich doch bewogen hat, das nicht zu tun, war die Überlegung, dass hinter dem, was wir in der Ausbildung tun, doch konzeptionelle Linien stehen müssen, die wir auch verantworten können sollten. Und deshalb hätte ich es vor mir selbst als „Kneifen“ verstanden, dem Problem auf diese Weise auszuweichen. Allerdings möchte ich Ihnen auch von vornherein sagen, dass ich Ihnen keine kohärente Theorie vortragen werde, sondern Überlegungen aus meiner Erfahrung in der theologischen Ausbildung heraus, sozusagen als ein Angebot zum Gespräch. Dazu kommt, dass ich die Frage, die Sie mir stellen – gleichsam in Stellvertretung für alle, die in der theologischen Ausbildung von Religionslehrern tätig sind – mit der Portion Unzufriedenheit, die in ihr steckt, wirklich ernst nehme.

1. Selbständiges theologisches Denken?

Bevor wir uns den Gegensätzen, Widersprüchen und Brüchen zwischen dem Studium der Theologie und den Anforderungen in der Praxis des Unterrichtens am Lernort Schule widmen, sollten wir zunächst einmal überlegen, was das heißen könnte, „selbständiges theologisches Denken“.

Eine erste Möglichkeit, diesen Ausdruck mit Inhalt zu füllen, liegt ganz nahe. Selbständiges theologisches Denken könnte nämlich heißen: umfassende Beherrschung des gesamten Stoffs der Theologie, der Religionslehrer als wandelndes Lexikon, obendrein auch noch fähig, all dieses so weiterzugeben, dass es verstanden und akzeptiert wird. Die Zielvorstellung wäre der Religionslehrer als verkleinerter, weil eben nicht spezialisierter Professor. – Klar: Wer würde sich das sich nicht wünschen? Aber die Realität ist anders. Und obendrein reicht es für den guten Religionslehrer sicher nicht aus, dass er den Stoff und die Methoden beherrscht, sondern er müsste außerdem auch fruchtbar Gebrauch davon machen können. Dazu wäre wenigstens erforderlich, dass er das allgemein Bedeutsame auf die spezifischen Altersgruppen oder vielleicht sogar auf die konkreten Menschen hin spezifizieren könnte.

Deshalb scheint mir eine zweite Möglichkeit, das Ziel des selbständigen theologischen Denkens mit Inhalt zu füllen, das zu sein, was Adolf Exeler in einem programmatischen Aufsatz zu Beginn der 80er Jahre in den Katechetischen Blättern entfaltet hat (2). Er hat dort den Religionslehrer – durchaus nicht ohne Pathos – als Zeugen charakterisiert und dieses Zeugesein folgendermaßen erläutert: „Ein Zeuge ist zunächst jemand, der in einem Streitfall etwas bekundet, was er selbst mit seinen eigenen Sinnen wahrgenommen hat. Wenn man

den Grundsinn des Wortes ernst nimmt, ist sofort klar: Zeuge sein heißt nicht, jemand anders bearbeiten, ihm etwas aufdrängen wollen, was dieser gar nicht will. Es heißt zunächst: Auskunft geben. Es geht um Auskunft über den Glauben, den man selbst vertritt, entsprechend der Forderung des 1. Petrusbriefes: ‚Seid stets bereit, einem jedem Rechenschaft zu geben über die Hoffnung, die euch beseelt‘ (1 Petrus 3, 15).“ (3)

Selbständigkeit hat hiernach eigentlich zwei Komponenten: Das Auskunftgeben aus der eigenen Standortfindung und die Fähigkeit, auf den anderen – sprich: auf den Schüler in seinen Denk- und Lebensbedingungen – einzugehen, ihn in seiner Befindlichkeit und in seinen Verortungen zu respektieren, ihn anzusprechen, ohne ihn zu vereinnahmen. – Beide Verständnismöglichkeiten nehmen Religion in den Blick, so wie diese sich kulturell verfestigt hat in der Geschichte des Christentums, in der kirchlichen Organisation, in Denkmustern, in Riten und Normen zur Bewältigung des Lebens und zur Orientierung des Handelns; es gilt, sie in ihrem Sinn zu erschließen. Aber: theologisches Wissen ist (wie im übrigen alles geisteswissenschaftliches Wissen) kein Wissen von der Art technischen, medizinischen,

juristischen oder auch ökonomischen Wissens; bei diesem geht es darum, funktionale Zusammenhänge, Abläufe und Reaktionen, Produktionsvorgänge, Rechtsspielräume zu erkunden und sich anzueignen. Beim theologischen und geisteswissenschaftlichen Wissen hingegen geht es um ein Wissen, das letztlich auf Selbstreflexion, auf Deutung, auf Selbststeuerung und auf Orientierung hin ausgerichtet ist. Dementsprechend erforscht die Theologie als Wissenschaft das Religiöse in unserer Kultur, die Geschichte des Christentums in seinen verschiedenen konfessionellen Ausformungen und Konflikten, die literarischen und künstlerischen Hinterlassenschaften sowie die Kommunikationsformen der Religion und, was davon in Gesellschaft und Kirche der Gegenwart erhalten ist. Darüber hinaus ist es ihre Aufgabe als hermeneutische Wissenschaft, den Dialog zwischen Gegenwart und Tradition, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen dem in den Zeugnissen Geronnenen und den heute lebenden Rezipienten ständig zu führen. Wenn man sich diese Grundaufgabe der Theologie vergegenwärtigt, könnte man Selbständigkeit des theologischen Denkens auch – und das wäre dann die dritte Verständigungsmöglichkeit – als Fähigkeit zum reflektierten Umgang mit der eigenen Kultur in ihrer religiösen Dimension sowie als Fähigkeit, darüber in einen argumentativen Diskurs mit anderen zu treten, verstehen. Der jetzige Studierende wäre dann der zukünftige Multiplikator dieser Fähigkeit, den Dialog zu führen, an der Schule als wichtigster öffentlicher Institution der Weitergabe und zugleich Vergewisserung über unsere eigene kulturelle Identität. Theologisch selbständiges Denken wäre dann erst gegeben, wenn jemand selbst aus eigener Souveränität Theologie treiben könnte, also selbst Deutungen entwickeln könnte, frei Ideen entwickeln und Zusammenhänge originell darstellen könnte, Überkommenes eigenverantwortlich transformieren oder auch kritisieren vermöchte und vor allem die eigene biographische Situation und die eigene Lebensorientierung eigenständig zu deuten wüsste. Dies also wäre eine dritte Möglichkeit, den Begriff selbständiges theologisches Denken mit Inhalt zu füllen.

Bei allen drei Interpretationsansätzen gibt es aber noch eine zusätzliche, theologiespezifische Schwierigkeit: Sowohl das öffentliche Bild von Kirche wie auch die Erfahrung vieler Theologietreibender sind mit dem Eindruck verbunden, dass die Selbständigkeit des eigenen theologischen Denkens nicht wirklich erwünscht ist und gefördert wird. Wenn von der Selbständigkeit des theologischen Denkens geredet wird, stellen sie sich also unwillkürlich die Frage, ob sie – gerade in ihrer individuell akzentuierten Religiosität und in ihrem eigenen Denkbemühen – wirklich willkommen sind in der Kirche. Wäre es dieser – so vermuten nicht wenige – nicht viel lieber, wenn die Theologen und die Theologie insgesamt auf einen fixen Maßstab, z.B. den Weltkatechismus oder bestimmte Glaubensbekenntnisse oder auch eine bestimmte Theologie und einen Kode von bestimmten sittlichen Normen verpflichtet wären und sich die Selbständigkeit ausschließlich auf die Genialität der Vermittlung des bereits Feststehenden beschränkte?

Und noch etwas, liebe Kolleginnen und Kollegen: Sie wissen, Lernziele sind nie empirische Zustandsbeschreibungen. Aber sie wollen auch nicht Utopien an die Wand unserer Erwartungen zeichnen. Ich glaube, wir dürfen die jungen Studierenden und erst recht die Schüler auch nicht überfordern. Selbständiges theologisches Denken – das ist ein sehr, sehr anspruchsvolles Ziel. Sinnvoll ist dieses Ziel, solange es bedeutet: Die Voraussetzungen und die Aufgaben zu charakterisieren, denen der Religionslehrer genügen soll: in seinem Wissensfundus, in seiner Wahrnehmungsfähigkeit, in seiner Fähigkeit, mit jungen Leuten in ein argumentatives Gespräch über Theologisches zu treten, auch seinem Problembewusstsein und in seinem existentiellen Suchen und Reflektieren. Wenn er dann bei den unterrichtlich relevanten theologischen Fragen in der Lage wäre, richtig zu informieren und wissend mitzureden, so wäre schon viel erreicht. Dabei sollten wir uns aber von vornherein bewusst bleiben, dass die Ausbildung, die jemand erworben hat, immer ergänzungs- und verbesserungsbedürftig bleibt, auch dann, wenn er (oder sie) seine (bzw. ihre) Examina bestanden hat und schon jahrelang in der Praxis des Unterrichtens steht. Dieser Unfertigkeitscharakter gilt – das sei zum Trost gesagt – natürlich auch für die, die Theologiestudierenden ausbilden.

2. Die Theologiestudierenden heute – aus der Wahrnehmung eines an der Universität Lehrenden

Als Lehrer kennen Sie normalerweise Ihre Schüler ziemlich gut und Sie kennen auch sehr gut die jungen Kollegen und Kolleginnen, die Sie als Fachleiter oder erfahrene Experten betreuen. Ich will Ihren Blick jetzt einmal auf die Phase zwischen Schüler und Kollege lenken und Sie einladen, zur Kenntnis zu nehmen, was uns Lehrenden an der Hochschule auffällt und was meines Erachtens massiv einwirkt auf das, was die Ausbildung an der Universität leisten kann, leisten muss aber auch: wo uns Grenzen gesetzt sind und wir kaum Möglichkeiten haben, etwas zu beeinflussen (4).

Ich beginne mit ganz Äußerlichem: Der Anteil der Theologiestudierenden, der von der Schule her nicht Kenntnisse der alten Sprachen besitzt, hat in den letzten Jahren sprunghaft zugenommen. Das bedeutet aber, dass nicht nur das Kultur- und Geschichtswissen, das mit diesen Sprachen fast automatisch zur Verfügung stand, nicht mehr vorausgesetzt werden kann (Wer waren Plato, Aristoteles, Cicero oder auch Augustinus? …), sondern auch, dass viel Zeit und Mühe darauf verwendet werden muss, diese Kenntnisse wenigstens in einem minimalen Umfang zu erwerben. Und das gleich zu Anfang des Studiums! Das ist für die allermeisten Studierenden eine Belastung, auch weil für sie nicht so schnell klar wird, dass ihnen diese oft nur mühevoll erworbenen Kenntnisse tatsächlich etwas für ihr Studium „bringen“; für manche bleibt dann die Motivation auf der Strecke. Bleiben wir noch einen Augenblick beim Faktor Zeit. Da muss noch erwähnt werden, dass sich das Studierverhalten auch dadurch verändert hat, dass ein ansehnlicher Teil der Studierenden – ich habe inzwischen den Eindruck: wenigstens jeder zweite – eigentlich Teilzeitstudierende sind, d.h. nicht nur in den Semesterferien und nicht nur als Hilfskräfte an einer universitären Institution, sondern auch während des Semesters erwerbstätig sind und zwar meistens in inhaltlich völlig fremden Tätigkeitsfeldern. Was jetzt interessiert, sind nicht die Gründe hierfür; es könnte ja sogar sein, dass dieses Verhalten, gleichsam zwei Berufe nebeneinander zu haben, realistisch ist im Blick auf die Situation, die vielen in der Zukunft beschieden sein wird. Aber faktisch führt dieser Umstand bei vielen unserer Studierenden schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt des Studiums zu einer Sortierung des Studienangebots nach den Kriterien: „Ich kann nur Veranstaltungen besuchen, die an bestimmten Wochentagen stattfinden“ und „Ich beschränke mich auf das, wofür ich einen Schein machen muss oder was ich für die Prüfung brauchen kann“. Dass bei solcher Handhabung unvermeidlich Lücken entstehen oder aber – was ich persönlich für noch problematischer halte – eine Verschiebung hin zu Randthemen (gemessen an dem, was später für den Unterricht in der Schule notwendig ist) stattfinden kann, die die Selbständigkeit des theologischen Urteils von vornherein beeinträchtigt, liegt auf der Hand.

Dazu kommen noch Präferenzen inhaltlicher Art. Theologiestudierende sind – von den Senioren und den Frauen mittleren Alters, die nach dem Auszug ihrer Kinder jetzt erstmals wieder die persönlichen Freiräume haben, ein Studium aufzunehmen, abgesehen – im allgemeinen jüngere Menschen, und da liegen manche Themen verständlicherweise existentiell näher als andere. Ich möchte das anhand meiner eigenen Lehrerfahrung illustrieren: Lehrveranstaltungen über „Liebe, Ehe, Sexualität“, über bioethische Themen, über Fragen der Fundamentalmoral erfreuen sich großer Nachfrage, so dass die dafür vorgesehenen Räume oft nicht ausreichen. Wenn ich hingegen Lehrveranstaltungen zusammenstelle, die nach meiner Erfahrung schlecht oder überhaupt nicht ‚gingen“, weil zu wenige Interessenten kamen, dann waren es Themen wie: „Armut“, „Arbeit und Arbeitslosigkeit“ oder wie in dem eben zu Ende gegangenen Wintersemester „Kirche in der Großstadt“. Ich möchte mit dem Gesagten andeuten, dass es im Theologiestudium – vielleicht ähnlich wie in der Psychologie – außer individuellen Interessenschwerpunkten auch noch so etwas wie lebensalterspezifische Präferenzen gibt, die jedenfalls dort, wo es nicht um strikt vorgeschriebene Pflichtbereiche geht, das individuelle Wahlverhalten mitbestimmen.

Die Jahre, die jemand im Studium verbringt, werden aber nicht nur von den Inhalten, von Ordnungen und Prüfungen sowie vom individuellen Rezeptionsverhalten bestimmt, sondern – und dies ganz maßgeblich – auch von der persönlichen Studienumwelt. Ein großer Anteil der Studierenden wohnt heute, und das verhält sich nun ganz anders als bei den meisten von Ihnen früher, auch während des eigentlichen Studiums im sozialen Milieu ihrer Herkunft, d.h. in dem Ort und bei den Menschen, wo sie groß geworden sind. Egal ob in der Wohnung der Eltern, ob im eigenen Zimmer oder in der WG mit einem Partner, erlaubt das Studieren an der nächstgelegenen Hochschule, die schon vor dem Studium existierenden Beziehungen und Aktivitäten einfach fortzusetzen. Das bedeutet aber faktisch, dass der Anreiz, sich selbst ein hochschulspezifisches Umfeld aus Kommilitonen, Arbeitsgemeinschaften oder Organisationen zu suchen bzw. selbst persönliche Beziehungsnetze zu knüpfen, für viele gar nicht besteht und sie deshalb während ihres gesamten Studiums gar keine oder allenfalls wenig Kontakte zu spezifisch studentischen Milieus wie Theaterspielgruppen, politischen Jugendorganisationen, sozialen „Vereinen“, Diskussions- oder Sportclubs, Verbindungen oder eben auch kirchlichen Hochschulgemeinden haben. Damit entfällt aber für viele eine spezifisch studentische Subkultur, in der solche theologische Selbständigkeit – die ja immer auch eine persönliche Selbständigkeit ist – wachsen kann.

Schließlich möchte ich noch zwei weitere Beobachtungen nennen, die spezifisch sind für die besondere Situation heutiger theologiestudierender und die manchmal ganz offensichtlich eher latente Schwierigkeiten darstellen, auf jeden Fall aber während des Studiums irgendwie bearbeitet werden müssen: Das eine ist der Bezug zur Kirche als konkret verfasster, durch Ämter und Personen repräsentierter Gemeinschaft. Hier entsteht – oft ausgelöst durch das theologische Wissen, das man in den Veranstaltungen oder in der Literatur mitbekommt – nicht nur die Herausforderung, eigene vertraute Vorstellungen aufzugeben oder wenigstens umzubauen, sondern auch die Notwendigkeit, den institutionellen Kontext der späteren Berufstätigkeit überhaupt einmal näher zu sondieren und sich eine eigene Meinung zu bilden. Oft genug ist es auch so, dass Studierende die Tatsache, dass sie sich für dieses Fach Theologie entschieden haben, als etwas erleben, was ihnen bei Mitstudenten und Bekannten im besten Fall Verwunderung oder Interesse einbringt, oft aber eben auch abschätzige Kommentare, Verdächtigungen oder die Behaftung mit den Klischees einer gängigen Kirchenkritik. Dies nicht nur emotional auszuhalten, sondern auch in intellektueller Redlichkeit für sich selbst und unter Umständen sogar für die Gesprächspartner zu  bearbeiten, ist sicher eines der großen „Fegefeuer“, durch das Theologiestudierende heute in der Regel gehen müssen und das auch von uns, den Lehrenden, Gratwanderungen (ja – aber, teils – teils, nicht nur – sondern auch, trotzdem) und manchmal sogar das Hoffen wider die Offensichtlichkeit des Faktischen verlangt.

Etwas zweites, was für Studierende nach meinem Eindruck da und dort Schwierigkeiten bereitet, ist eine gewisse Kluft zwischen der akademischen Reflexion und ihrer eigenen Alltagswirklichkeit und Alltagsreligion. Nicht weniges von dem, was heute an guter Theologie gedacht, geschrieben oder auch diskutiert wird, folgt einer inneren Logik des „traditionell hat man das so und so gesagt, heute wissen wir mehr über die Entstehung, die Bedingtheit und die Vielfalt der Interpretationen, deshalb könnte man es auch so verstehen“… . Diese Logik des Früher – Heute hängt natürlich mit der religiösen Biographie der überwiegenden Mehrzahl der Lehrenden zusammen, die das II. Vatikanum, die Reform der Liturgie, die Selbstverständlichkeit historisch-kritischer Bibelexegese, die systematische Theologie von Karl Rahner und Eduard Schillebeeckx, die Moraltheologie von Franz Böckle und Alfons Auer usw. als befreiende Zäsur der Theologiegeschichte erlebt haben, weil sie in der alten „Kirchlichkeit“ noch groß geworden sind und in ihr gelebt haben. Ich glaube zwar, dass diese Kluft zwischen Früher und Heute vor allem für den älteren und auch für den theologisch weniger gebildeten Teil des Kirchenvolkes noch immer eine der zentrasten Fragestellungen ist. Aber was bedeutet für die heute 20 bis 25jährigen der emphatische Hinweis auf das II. Vatikanum oder die Würzburger Synode, was bedeutet für sie die Überwindung der Enge der Neuscholastik und die Erinnerung an die früher selbstverständliche Beichte vor allen großen Feiertagen, und was können sie mit Themen wie Engel, Fegefeuer, Hölle oder gar Ablass anfangen? Man kann vermuten, dass zumindest wachere Theologiestudierende nach dieser Verbindung zwischen ihrer eigenen Erfahrungswelt und den in den meisten theologischen Disziplinen eingebürgerten und selbstverständlich benutzten Kategorien wie Offenbarung, Erlösung, Gottesreich, Gnade und anderen fragen und vielleicht nicht so ganz leicht auf eine Antwort treffen, die auch für sie selbst unmittelbar nachvollziehbar ist. – Etwas provozierend formuliert: Nicht nur Fachleiter haben ihre liebe „Not“ mit den von uns theologisch Ausgebildeten. Sondern auch wir haben unsererseits unsere Schwierigkeiten mit Ihren ehemaligen Schülern, und diese selbst haben Schwierigkeiten mit dem Studium als Lebensphase, mit der Hochschule als Ort des Lernens und des sozialen Lebens und auch ein Stück weit mit der Theologie als Wissenschaft.

Persönlich glaube ich, dass das weniger am Mangel von Vermittlungsbemühungen zur Berufspraxis liegt als an den großen gesellschaftlichen Entwicklungen, in die die Institutionen Universität, Schule, Kirche und dann noch einmal die Theologie als wissenschaftliche Disziplin eingebettet sind. Es hat deshalb wenig Sinn, den Schwarzen Peter zwischen schulischem Unterricht und universitärer Ausbildung hin und herzuschieben. Erfolgversprechender scheint mir, einander im Blick zu haben und gemeinsam zu überlegen, was sich punktuell und strukturell verbessern ließe.

3. Übergänge zwischen Theorie und Praxis

Es hat sich eingebürgert, die Befindlichkeit junger Religionslehrer, die beginnen, regelmäßig zu unterrichten, als „Praxisschock“ zu charakterisieren. Für die Heftigkeit dieser Empfindung ist sicherlich auch eine Reihe von Komponenten ausschlaggebend, die mit der theologischen Ausbildung überhaupt nichts zu tun haben: Das starre Zeitkorsett und die frühe zeitliche Verfügbarkeit am Morgen etwa, die Erwartung, pünktlich anzufangen und aufzuhören, die Führung des Unterrichts entlang von Lehrplänen und Büchern, die Wichtigkeit von Planung und Organisation im Schulbetrieb, und vor allem die Auseinandersetzung mit Disziplin und Arbeitshaltung auf Seiten der Schüler. Dazu kommt – und daran ist das von der Universität her gewohnte Denken von theologischen Sachverhalten vielleicht am meisten betroffen – die große Zahl der Themen, die man nicht nur behandeln, sondern sich oft genug binnen kürzester Zeit erst neu erschließen muss, sowie das ständige Denken auf die Schüler hin und von den Schülern her.

Dieser Schock scheint mir prinzipiell unvermeidbar, und auch die beste universitäre Ausbildung wird ihn wohl nicht aufheben können. So wenig wie jenen anderen Schock, den viele Theologiestudierende am Anfang ihres Studiums erleiden, den sie aber später, nach dem Studium, gerne vergessen. Ich möchte ihn als Theorieschock charakterisieren. Auch dieser frühere Schock hat mehrere Komponenten. Zu denen gehören die noch ungewohnte Freiheit, die Unübersehbarkeit der vielen gleichzeitigen Angebote, die Menge des Stoffs und die Schnelligkeit der Information. Dazu kommt aber auch das kritische Hinterfragen der mitgebrachten Religiosität, die distanzierte Behandlung von Glaube, Gott, Sakramenten, Gebet gleichsam als „Gegenständen“, als hinge für die Menschen, denen sie etwas bedeuten, nichts davon ab, sowie die vielen anderen Fragen, die durch das Gehörte überhaupt erst neu entstehen und keine oder jedenfalls nicht sofort befriedigende Antworten erhalten.

Warum dieser betonte Hinweis auf den ersten Schock zu Anfang des Studiums? Weil es mir erstens wichtig scheint, im Blick zu behalten, dass „Schocks“ in einem gewissen Maß unvermeidlich sind, und zweitens, dass auch in einem Studium neben der Grundlegung einer soliden Wissensbasis gleichzeitig noch vieles andere verarbeitet, auf-und umgebaut werden muss, was für das Ziel, später einmal als Religionslehrer selbständig theologisch denken zu können, unerlässliche Voraussetzung ist. Und selbst dafür – also bezüglich des Religionsunterrichts mit den Schülern – müsste man sich ja noch einmal klar machen, dass es hier ja noch eine weitere Bruchstelle gibt: Nämlich die Kluft zwischen dem Reden über, dem Informieren und Erschließen von Sachverhalten, Fragen und Deutungen und dem christlichen Leben, das Gegenstand des Unterrichts ist und irgendwie auch dessen Ziel, wenigstens als Ermöglichung, als Einladung und Angebot, kaum jedoch als fest planbarer Schritt.

Gleichwohl steht es natürlich ganz außer Frage, dass der Wechsel vom einen zum anderen nicht zu heftig ausfallen und schon gar nicht zerstörend wirken sollte. Die Chancen dafür kann man durchaus steigern, wenn der jeweilige Wechsel begleitet und auch vorbereitet wird. Dafür scheint mir die Metapher vom „Übergang“ geeignet, weil Übergänge im Sinne von Brücken davon ausgehen, dass es verschiedene Seiten gibt – also sagen wir konkreter: Dass es die theoretische Reflexion sowie das Wissen auf der einen Seite und auf der anderen die Unterrichtspraxis gibt, die ja ihrerseits nicht bloß aus Anwendung und Umsetzung besteht, sondern die sachfundierte Instandsetzung anderer, sich und ihr Leben und die Welt besser zu verstehen, umfasst -, dass zwischen beiden Seiten aber trotzdem wechselseitiger Austausch, Sondierungen, Bezugnahmen und Perspektivenwechsel möglich und sinnvoll sind.

Damit sind zunächst einmal zwei typische Weisen, Theorie und Praxis ins Verhältnis zueinander zu setzen, abgewiesen: nämlich die einer vollständigen Trennung im Sinne eines beziehungslosen Nacheinanders von theologischem Studium und anschließender Praxis im Feld Schule, sowie die entgegengesetzte einer völligen Subordination der fachtheologischen Ausbildung unter den schulischen Praxisbezug. Gegen das strikte Zweiphasenmodell (Modell 1) spricht u.a. der Umstand, dass jede Theorieentwicklung (auch in der Theologie und selbst noch in der Dogmengeschichte) aus praktischen Problemkonstellationen hervorging oder jedenfalls eng mit einer solchen zusammenhing. Zum anderen sind praktische Problembezüge, eigene Fragen, Interessen, Wahrnehmungen von Praxisfeldern ja gerade das, was Analysieren, Strukturieren und Überprüfen von theoretischen Entwürfen und Denkansätzen im Gespräch und in der Auseinandersetzung mit anderen interessant und ergiebig macht. Wie eigentlich sollte man denn über Gott reden, ohne dies auf der Folie von gesellschaftlicher Säkularisierung und heute vorhandenem Pluralismus zu bedenken? Und wie sollte man über Abtreibung und Sterbehilfe lehren, wenn dies nicht unter Bezugnahme auf die gegenwärtigen Möglichkeiten, die praktischen Probleme im heutigen Medizinbetrieb und heutigen Mentalitäten geschieht. Und wie könnte man darüber dozieren, was Gemeinde sein soll, wenn man nicht ausmessen würde, was sie angesichts der heutigen Lebenskontexte und Lebensformen und sozialen Defizite sein könnte?

Umgekehrt brächte die Subordination der Theologie unter die berufliche Praxis (Modell 2) die Gefahr mit sich, dass die Fachkompetenz auf das exemplarisch Didaktisierte beschränkt bliebe, weil eben gar nicht die Fähigkeit vermittelt werden konnte, sich neue Gebiete und Themen eigenständig zu erschließen. Mit Sicherheit würde aus dem Fundus der theologischen Tradition nur solches ausgewählt, was aktuell und punktuell gerade in einen bestimmten Denkhorizont passte, damit aber vieles andere ausgefiltert, was sich im Moment als sperrig und fremdartig erweist, aber vielleicht in zehn Jahren schon neu entdeckt werden kann. Außerdem fände fast zwangsläufig eine erhebliche Reduktion zu Lasten des universalen Anspruchs des Glaubens statt, da sich ja für jede Bezugsgruppe etwas anderes als bewegend, als nachvollziehbar und praktisch zumutbar herausstellen könnte. Zudem hat der didaktische Bezug im Studium seine prinzipiellen Grenzen, insofern sowohl die konkreten Adressatengruppen als auch die berufliche Rolle immer nur antizipiert werden können und insofern zwangsläufig fiktional bleiben; die Religionsdidaktik bleibt also trotz aller Praxisbezogenheit darauf angewiesen, entwicklungspsychologische Theorien und Ergebnisse der Sozialwissenschaften über die religiöse Situation von Jugendlichen zu benutzen.

Aus diesen Gründen ist es für mich überhaupt keine Frage, dass man das Verhältnis zwischen theologischer Ausbildung und schulischer Praxis angemessen eigentlich nur als ein wechselseitiges (Modell 3) begreifen kann und es auch so konzipieren muss.

Die Frage, der wir nun nachzugehen haben, ist die: Was tut die theologische Ausbildung an der Hochschule, um bei den künftigen Religionslehrern dazu beizutragen, die theologische Selbständigkeit des Denkens zu fördern? Ich möchte die Antwort in zwei Schritte teilen und zunächst einmal die Möglichkeiten und Bemühungen schildern, die es im heutigen Lehrbetrieb schon gibt, natürlich mal weniger und mal stärker ausgeprägt. In einem zweiten Schritt meiner Antwort möchte ich dann ein paar Linien andeuten, wie ich mir vorstellen könnte, wie dieses Anliegen in der Zukunft noch stärker vorangebracht werden könnte.

4. Förderung der Selbständigkeit im Studium

Ich möchte als ersten Beitrag noch einmal die gründliche fachliche Ausbildung der Studierenden nennen. Wer eine gute Grundlage an Wissen hat, kann mit größerer Sicherheit urteilen, kann Bezüge herstellen, kann auch zu bislang noch nicht erarbeiteten Fragen etwas sagen. Dabei ist es nach meiner Erfahrung von entscheidender Bedeutung, dass die Inhalte der fachlichen Ausbildung nicht einfach austauschbar sind, wie das viele Studienordnungen heute leider noch möglich machen. Stärker als früher sollten deshalb von den Lehrenden Signale gegeben werden, was zu den Grundkenntnissen gehört, die man sich im Laufe des Studiums unbedingt aneignen muss. Auch eine stärkere Differenzierung zwischen Überblicks- und Spezial- oder Vertiefungsthemen wäre nützlich. Ich denke, dass wir an dieser Stelle in der Studienreform der theologischen Ausbildungsgänge unbedingt weiterkommen sollten. – Die gute fachliche Bildung ist natürlich auch eine Herausforderung für die Fortbildung des einzelnen nach der universitären Ausbildung. Andernfalls geht im Laufe der Zeit Stück um Stück die Selbständigkeit des Denkens verloren, über die er rüher vielleicht einmal schon verfügt hatte. Fortbildungsveranstaltungen können auch im Blick auf diejenigen, die an der Universität Theologie lehren, von erheblichem Nutzen sein: Das Gespräch und der Austausch mit den „Praktikern“ ist für uns „Theoretiker“ eine der wichtigsten Möglichkeiten, unser eigenes Tun und Lehren zu korrigieren und uns zu mühen, Dinge wieder neu zu sagen und manchmal dann deutlicher zu verstehen, als wir es bis dahin getan haben.

Die zweite Möglichkeit, Selbständigkeit während des Studiums gezielt voranzubringen, sind Praktika. Diese sollten nicht zu früh im Studium absolviert werden, weil sich die meisten Studierenden sonst kaum getrauen werden, eigene Versuche mit dem Unterrichten zu machen, aber sie sollten auch nicht erst kurz vor der Examensphase liegen. Praktika sind nach meiner Erfahrung deshalb so wichtig und wertvoll, weil die Studierenden hier im Regelfall zum ersten Mal seit der eigenen Schulzeit Einblick in die Schule und in Unterrichtssituationen gewinnen, und dies an einer anderen Schule als derjenigen, die sie aus ihrer eigenen Schulzeit kennen, und obendrein eben auch aus anderer Perspektive. Praktika bedeuten nach meinen Beobachtungen häufig auch einen Motivationsschub für ein ernsthafteres Studieren der Betreffenden, manchmal sind sie auch der Auslöser für die Klärung der eigenen beruflichen Optionen, die zu Beginn ja oft oder sogar meistens noch sehr diffus sind. Praktika sind meines Erachtens allerdings nur dann fruchtbar, wenn sie angeleitet, mit Interessiertheit begleitet und auch in irgendeiner Form supervisiert werden. Hieran fehlt es aber häufig – weniger aus Unwille als wegen fehlender Plätze und fehlender Finanzen.

Eine dritte Form, Selbständigkeit im theologischen Denken zu fördern, scheinen mir spezifische Einführungs- und Übersichtsveranstaltung für Anfänger zu sein. An vielen Ausbildungsstellen gibt es gemäß dem Vorschlag von Karl Rahner eine solche Veranstaltung mit dem Namen „Theologischer Grundkurs“, sie muss freilich keineswegs so heißen. Diese Einführungsveranstaltung hat in den zwanzig Jahren seit ihrer Einführung an den verschiedenen Ausbildungsinstitutionen recht unterschiedliche Gesichter ausgebildet; die gemeinsame Intention ist aber noch immer die, dass zu Anfang des Studiums eine Einführung in die Ganzheit der Theologie versucht wird, damit von vornherein im Studierenden nicht der Eindruck der Disparatheit der Stoffe und der Methoden aufkommt. In dieser Gefahr stehen die großen theologischen Fakultäten mit ihren vielen, ausdifferenzierten Fächern natürlich noch viel mehr als die kleinen Institute, an denen es sich die Lehrenden kaum leisten können, bei kritischen Nachfragen der Studierenden an die Kollegen zu verweisen, die hierfür „der Fachmann bei uns“ sind. – In Saarbrücken, wo wir einen solchen Grundkurs leider nicht haben, versuchen wir, diesen Ganzheitsaspekt der Theologie wenigstens am Ende des Studiums in Gestalt von Examenskolloquien zu realisieren; diese haben nicht nur den Sinn, die Examenswilligen zu trainieren und zu beraten in der Auswahl und im Zuschnitt der Themen, in Lektüre und der Weise der Vorbereitung, sondern maßgeblich auch den Sinn, Zusammenhänge zwischen den vielen verschiedenen Stoffen, die im Studium gehört und erarbeitet wurden, aufzuzeigen oder herzustellen. – Ich denke, dass eine spezielle Übersichtsveranstaltung für Anfänger außerdem auch die wichtige Funktion hat, den Studierenden von vornherein klarzumachen, dass Theologietreiben ein kommunikatives Geschehen ist, das Elemente der Tradition und eigenständige Erfahrungen und Sichtweisen heute lebender Menschen in ein produktives und für verschiedene Perspektiven offenes Gespräch bringt.

Der Grundkurs ist an manchen Fakultäten auch darauf ausgerichtet, so etwas wie eine berufliche Identität zu entwickeln. Diese Zielsetzung halte ich selber am Beginn des Studiums für zu anspruchsvoll und nehme an, dass dabei ursprünglich wohl die Priesteramtskandidaten im Blick waren. Aber es scheint mir wohl von unerlässlicher Wichtigkeit, während des Studiums die Frage der beruflichen Tätigkeit, also das mögliche spätere Wirken als Religionslehrer an der Schule, immer wieder zu thematisieren und in den Blick zu bringen. Und in diesen Zusammenhang gehört dann auch die Frage nach der theologischen Existenz, also die Frage, wie und mit welchen Bezugspunkten man sein eigenes Leben gestalten und wovon man sein Dasein bewegen und tragen und orientieren lassen will. Eigene Lehrveranstaltungen zu diesen Themen sind sicher nur eine unter mehreren Möglichkeiten, diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen, Wochenenden, jour fixe oder Sonderveranstaltungen mit Verantwortlichen aus der jeweiligen Schulabteilung eine andere. Ich persönlich habe auch immer wieder gute Erfahrungen gemacht mit Gästen aus Schule und anderen Praxisfeldern, die ich in meine Veranstaltungen eingeladen habe. Im Tausch dazu lasse ich mich dann auch schon einmal in einen Religionskurs einladen und stehe den Fragen der Schüler zur Verfügung. Auch das ist – nebenbei gesagt – eine gute Form der Rückmeldung, so ähnlich, wie die Kommentierungen, die ein Theologieprofessor, der eine Familie hat, von dorther bekommt, meist ungefragt, aber dafür garantiert ehrlich.

Gut für die Selbständigkeit des künftigen Religionslehrers erscheint mir auch das Arbeiten von Theologiestudierenden in kleinen Gruppen, weil dies die Fähigkeit übt, kritisch zu reflektieren und – ohne die Befürchtung, sich zu blamieren – theologisch zu argumentieren. Allerdings müssen dann eindeutige Aufgabenstellungen vorliegen und die Ergebnisse auch protokolliert, den anderen mitgeteilt und besprochen werden. Dies ist – und darin liegt der Nachteil dieser Form gemeinsamen Lernens – sehr zeitaufwendig.

Es gibt über das schon Genannte hinaus noch eine ganze Reihe weiterer, eher unspektakulärer Möglichkeiten, Selbständigkeit im Hinblick auf die späteren Anforderungen im Religionsunterricht zu fördern. Z.B. diejenige, die Themen, die in Lehrveranstaltungen behandelt werden, auch auf ihre Eignung für den Religionsunterricht zu bedenken oder umgekehrt bei der Wahl der Themen für Lehrveranstaltungen auch einmal den Lehrplan zu Rate zu ziehen; oder die, bei historischen Phänomenen nach strukturellen Parallelen zwischen damaligen und heutigen Problemen zu fragen. Am wichtigsten für die Förderung von Eigenständigkeit scheint mir aber, bei Problemen und Fragen, so seit es nur irgendwie geht, stets mehrere Lösungsvorschläge vorzustellen und zu diskutieren.

Warum ist das so wichtig? Weil es die Voraussetzung ist für das Analysieren, für das Entdecken und Abwägen von Argumenten und danach auch für das differenzierte Stellungnehmen. Die Harmonisierung von Standpunkten ist das, was Studierende in ihren Arbeiten in den ersten Semestern des Studiums nach meiner Beobachtung am häufigsten falsch machen; und das vereinfachende Passendmachen von Verschiedenem ist eben auch das, worunter die großen Debatten in Gesellschaft und Kirche, gerade auch die ethischen, am allermeisten leiden. Wenn es uns also gelänge, während des Studiums die Wahrnehmung für das Unterschiedliche zu schärfen und die Fähigkeit zum Differenzieren zu verbessern, dann wäre das nach meinem Dafürhalten etwas vom Wertvollsten, was die Ausbildung an der Universität zum selbständigen theologischen Denken und Lehren beitragen könnte.

5. Konturen einer Stärkung der Selbständigkeit des theologischen Denkens in der universitären Ausbildung der Zukunft

Aller Voraussicht nach wird die Notwendigkeit, die Selbständigkeit des theologischen Denkens zu stärken, in der Zukunft noch zunehmen. Dafür spricht nicht nur die zunehmende Individualisierung, die wir heute in allen Bereichen beobachten können, auch und gerade in jenen Bereichen, die früher einmal durch religiöse Riten „versorgt“ und begleitet wurden (z.B. Hochzeit, Begräbnis); dafür spricht auch die abnehmende Prägekraft der konfessionellen Lebensformen und Milieus. Dies bedeutet natürlich nicht automatisch, dass die Schüler deswegen schon stärkere individuelle Persönlichkeiten ausbilden würden; im Gegenteil stellt die veränderte Situation höhere Ansprüche an den einzelnen und wird deshalb in den meisten Fällen mit einem Mehr an Diffusion und einem Mehr an Irritation bezahlt werden. Aber es bedeutet hinsichtlich des Bereichs Religion vermutlich, dass das Wissen um die Vielfalt der Standpunkte und Ausdrucksformen, die es in der Gesellschaft und auf der Welt gibt, im einzelnen Schüler stärker als jemals zuvor vorhanden ist. Und es bedeutet geradezu einen Zwang, bestimmte religiöse Positionen und Optionen der Gegenwart und auch der Geschichte vor der gemeinsamen Vernunft (und manchmal vielleicht auch vor Denkmoden) zu rechtfertigen. Und schließlich bedeutet es wohl auch, dass sich die Meinungen, die Positionen und die Vorlieben der Schüler stärker individualisieren werden in Relation zu ihren persönlichen Erfahrungen, ihren jeweiligen Umwelten, ihren biographischen Schicksalen und vor allem auch zu ihren Gruppen und Bekanntschaften. Wenn der Religionsunterricht nicht zwischen den Auswirkungen dieser Entwicklungen zerrieben werden soll in dem Sinn, dass nur noch Unverbindliches übrig bleibt, und wenn er ich andererseits auch nicht mit der Funktion begnügen möchte, nur die durch die beschleunigte Modernisierung bewirkten Schäden irgendwie auszugleichen, dann liegt die einzige Chance, diese Entwicklungen aufzufangen, darin, die Kompetenz und die Selbständigkeit des Religionslehrers zu stärken.

Die Theologie an den akademischen Ausbildungsinstitutionen muss zu dieser Stärkung ihren Beitrag leisten. Jedenfalls dann, wenn sie sich nicht als autarke Wissensproduktions- und Wissensverwaltungsinstitution verstehen möchte, sondern auch als eine kritische, verständnisvolle und engagierte Partnerin der je neuen Generation von Theologen und Theologinnen. Eine solche Partnerin aber kann sie nur sein, wenn sie selbst bereit ist, ihr Angebot weiterzuentwickeln, sich zu erneuern, hinzuzulernen und auch sich zu verändern.

Was aber könnten derlei Fortentwicklungen in der Zukunft sein, die die Eigenständigkeit theologischen Denkens bei den Studierenden stärken könnten? Ich sehe hier wenigstens drei große Aufgaben auf uns zukommen, nämlich 1. Räume, Anlässe und Hilfestellungen zu geben, um eine persönliche und biographisch eigenständige Identität ausbilden zu können (5). Die vielleicht am Anfang nicht ganz aus Überzeugung erfolgte Studienwahl, die während des Studiums aufkommenden Zweifel, die Angst vor er Zukunft in Arbeitslosigkeit, die Anonymität einer Universität, die Suche nach der eigenen Geschlechterrolle als Mann bzw. als Frau, die Suche nach einem Partner und die Enttäuschungen, die dabei erlebt werden können, Selbstzweifel hinsichtlich der eigenen Leistungsfähigkeit und Orientierungslosigkeit – dies muss nicht alles unbedingt Gegenstand von Vorlesungen sein, aber es muss gleichwohl Platz haben im Studium. Wie, das lässt sich ganz verschieden vorstellen: durch mehr Gesprächskultur, durch niederschwellige Beratungsmöglichkeiten, durch das Stellungnehmen zu aktuellen bedrückenden Vorgängen in den Lehrveranstaltungen, Interesse auch für die Personen und nicht bloß für ihre Leistungen, eine detaillierte Rückmeldung bei Leistungsüberprüfungen u.ä.m. Bei aller Begeisterung für die neuen Informationsmöglichkeiten durch Computer und Internet sollten wir gerade in der Theologie berücksichtigen und die Studierenden auch praktisch erfahren lassen, dass Bildung mehr ist als Wissen.Bei der Bildung geht es eben nicht nur um Info-Bytes und deren Verfügbarkeit, sondern auch um Einstellungen und Haltungen. Diese aber bedürfen der personalen Bezüge, und zwar unersetzbar.

Die zweite Aufgabe, die mir für die Zukunft anzustehen scheint, ist die Sensibiität für religiöse Phänomene in der Gegenwartskultur. Ich möchte das nicht so verstanden wissen, dass wir die Verortung der Theologie und auch des Religionsunterrichts in Christentum und in der konfessionellen Kirchen aufgeben sollten. Dies hat seinen guten Sinn. Aber wir müssen auch über den Tellerrand schauen und sehen, dass es außerhalb der konfessionellen Kirchenzäune Religion und Religiöses gibt, und dass dieses in der Deutung der Wirklichkeit und in der Orientierung des Handelns vieler Menschen in der Gesellschaft und eben auch und gerade vieler Schüler eine erhebliche Rolle spielt. Es scheint mir sogar, dass seit einiger Zeit auch unter den Theologiestudierenden die Zahl derer zunimmt, die nicht mehr die typische religiöse Sozialisation in den Jugend- oder Messdienerverbänden durchlaufen haben, sondern gleichsam quer einsteigen, sei es als regelrechte Konvertiten (in einem ganz neuen Sinn: Das fasziniert mich, damit habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nie befasst), oder als noch Suchende oder auch als solche, die jahrelang andere Wege eingeschlagen hatten und dann eines Tages auch wieder abgebrochen haben (Sekten, exotische Religionen, esoterische Kulte). Auch für solche religiösen Phänomene und Fragen außerhalb der herkömmlichen konfessionellen Ausdrucksformen, Kategorien, eine angemessene Sprache und sogar Wissen zur Verfügung zu haben, wäre sehr hilfreich; genauso hilfreich wie die Aufarbeitung oder wenigstens Aufhellung der eigenen Lebens und Glaubensgeschichte der Studierenden notwendig ist. (Aber wer macht das eigentlich?)

Eine dritte Aufgabe schließlich möchte ich mit dem Stichwort stärkere Vernetzung des theologischen bzw. theologisch relevanten  Bemühens und Wissens charakterisieren. Wenn wir die Einsichten in die Kontextualität von theologischen Doktrinen und der Verkündigung ernst nehmen, die in den letzten zwei Jahrzehnten erarbeitet worden sind, werden wir Lehre und Forschung in der Theologie nicht weiterhin ausschließlich entlang der bestehenden und säuberlich abgegrenzten Disziplinen betreiben können, sondern dann müssen wir in viel stärkerem Maße als noch derzeit disziplinübergreifend innerhalb der Theologie, und darüber hinaus auch mit anderen Fächern außerhalb der Theologie kooperieren. Dieses ist zunächst schlicht notwendig, weil es für viele Sachbereiche, die theologisch relevant sind (ich nenne nur einmal aus dem Bereich der Ethik: Medien und Mediennutzung, Tierschutz, Unfallchirurgie, Entwicklungspolitik, Ökonomie), gar keine spezielle Disziplin der Theologie gibt, die hier qua Fach eine ausreichende Kompetenz beanspruchen könnte; die Folge ist, dass Fragen dieser Art dann trotz grundsätzlicher Einschätzung als äußerst wichtig entweder gar nicht verhandelt werden – oder aber eben interdisziplinär in Angriff genommen werden müssen. Es ist aber nicht nur notwendig, sondern auch nützlich für diejenigen, die Theologie treiben, wenn sie sich mit kompetenten Leuten aus anderen Fächern auseinandersetzen und durch sie vieles erfahren, was sie sich selbst hätten gar nicht erarbeiten können und was sie dazu nötigt, experimentierend Gedanken zu  entwickeln, sie zu erproben und zu verwerfen oder aber zu verändern. Hier wäre dann tatsächlich etwas von jener Vision der  Selbständigkeit des theologischen Denkens im 3. Sinn eingelöst, von der am Anfang dieses Vortrags die Rede war.

Zum Schluss möchte ich Ihnen Mut zusprechen in der Weiter-Betreuung unserer ehemaligen Studierenden. Machen Sie nicht den Fehler, Ihnen als erstes zu sagen: „Jetzt vergessen Sie mal schön alles, was Sie an der Universität gelernt haben.“ Sondern lassen Sie sie ein Stück Hochachtung spüren vor dem, was sie bisher gemacht haben, und lassen Sie sie erfahren, dass sie ihr „Geschäft“ gut machen. Schaffen Sie eine Atmosphäre, die Gespräche ermöglicht, und die zeigt, dass es auch noch was anderes gibt als Termine, Kampf um Punkte und Routine.

Im Grunde ist das, was mit selbständigem theologischem Denken angezielt ist, nur eine andere Umschreibung für Korrelation. Korrelieren geht sicher nicht so einfach, wie das in der religionspädagogischen Diskussion vor 20-25 Jahren einmal gedacht war. Aber ein vernünftiges heuristisches Prinzip für Theologie und Religionsunterricht ist es eben allemal.

Ich gestehe Ihnen gerne zu, dass die wissenschaftliche Theologie diese Korrespondenz zwischen Theologie und eigenen Fragen nicht ausreichend schafft. Deshalb braucht es engagierte Leute in der nachuniversitären Ausbildung, die den „Neuen“vormachen, wie es geht.

Anmerkungen

(1)(n.o.) Zu den wenigen Ausnahmen gehört: Hans Stock, Elementarisierung theologischer Inhalte und Methoden im Blick auf die Aufgabe einer theologisch zu verantwortenden Lehrplanrevision und Curriculumentwicklung in den wichtigsten religionspädagogischen Handlungsfeldern. Zwischenbericht, Münster 1975;

Giovanni Vassalli, Religion – glaubwürdig. Das Problem der Glaubwürdigkeit des Religiösen bei Oberstufenschülern, Zürich 1976; Günter Stachel u.a. (Hg.), Inhalte religiösen Lernens, Zürich/Einsiedeln/Köln 1977; Martina Glasberg-Kuhnke, Theologie studieren als Praxis, in: Religionspädagogische Beiträge 39 (1997), 3-18. In anderer Weise wird dieser Fragenkomplex auch berührt durch die Kontroverse um den Aufsatz von Rudolf Englert, Der Religionsunterricht nach der Emigration des Glauben-Lernens, in: Katechetische Blätter 123 (1998) 4-12; (Linus Hauser: Warnung vor einer Religionspädagogik der beruhigten Endlichkeit, in: ebd. 386-394, und: Eckhard Nordhofen, Bei uns bleibt Er tot, in: Die Zeit vom 22.12.1998, S. 41).

(2)(n.o.) Adolf Exeler, Der Religionslehrer als Zeuge, in: Katechetische Blätter 106 (1981) 3-14.

(3)(n.o.) Ebd. 4

(4)(n.o.) Eine Reihe sehr guter Beschreibungen und Analysen zur Situation von Theologiestudierenden heute enthält die Dokumentation der Studientagung des Katholisch-Theologischen Fakultätentages vom November 1994 „20 Jahre Theologischer Grundkurs. Bilanz und Perpektiven“, Bonn 1995 (= Broschüre der Zentralstelle Bildung der Deutschen Bischofskonferenz).

(5)(n.o.) Siehe dazu außer dem in Anm. 1 genannten Beitrag von M. Blasberg-Kuhnke auch Wilhelm Gräb, Der hermeneutische Imperativ. Lebensgeschichte als religiöse Selbstauslegung, in: Walter Sparn (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990, 79-89. Verobjektiviertes Material zum Lernen anhand der Autobiographie anderer bieten Rainer Lachmann/Horst F. Rupp (Hg.), Lebensweg und religiöse Erziehung. Religionspädagogik als Autobiographie, 2 Bde., Weinheim 1989.