Positionspapier des Bundesverbandes Katholischer Religionslehrer und Religionslehrerinnen an Gymnasien zum Religionsunterricht (2004)

Weitreichende Veränderungen im politischen und gesellschaftlichen Raum der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung im Jahre 1989 und eine zunehmende Pluralisierung in allen Lebensbereichen haben erneut die Frage nach dem Selbstverständnis und Auftrag des schulischen Religionsunterrichtes aufgeworfen. Der Bundesverband katholischer Religionslehrer und -lehrerinnen an Gymnasien begrüßt hierzu die Stellungnahmen des Deutschen Katecheten-Vereins (1993), der Evangelischen Kirche (Identität und Verständigung, 1994) und der Katholischen Kirche (Die bildende Kraft des Religionsunterrichts, 1996). Unter anderen teilt er die folgenden dort vertretenen Positionen:

  1. den diakonischen Ansatz des Religionsunterrichts, ausgehend von der Lebenswirklichkeit des Heranwachsenden und seiner Frage nach dem Woher, Wohin und Warum,
  2. den Bekenntnischarakter des Religionsunterrichts und seine gleichzeitige Offenheit,
  3. seine orientierende Funktion im Prozess des Selbstfindung und der Entwicklung sozialer Kompetenz.

Das vorliegende Positionspapier verzichtet darum auf eine Wiederholung der einschlägigen Aussagen zur Begründung und Ausrichtung des schulischen Religionsunterrichts. Es akzentuiert vielmehr die theologischen Grundlagen des Religionsunterrichts und die religionspädagogische bzw. erziehungswissenschaftliche Frage, unter welchen Bedingungen Orientierungs- und Identifikationsprozesse stattfinden können, d.h. unter welchen Bedingungen der Religionsunterricht das hält (halten kann), was er verspricht.

Die Voraussetzungen für den schulischen Religionsunterricht entsprechend Artikel 7 Absatz 3 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes haben sich in mehrfacher Hinsicht verändert. Etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland ist nicht getauft oder gehört einer anderen Religion an. Die beiden anderen Drittel, je zur Hälfte evangelische und katholische Schülerinnen und Schüler, wachsen zunehmend mehr in Familien auf, die von der Kirche entfremdet sind. Andererseits boomt der Markt an religiösen und pseudoreligiösen Sinnangeboten und Hilfestellungen zur individuellen Daseinsbewältigung, gewinnbringend, zumindest für die Anbieter. Ferner nehmen religiöse Synkretismen zu, die unverbindlich bleiben und, weil sie Unvereinbares vereinbaren wollen, letztlich haltlos und orientierungslos machen.

So ist neu zu entscheiden, welches unverwechselbare Profil der Religionsunterricht im Fächerkanon der Schule haben soll und auf welche Weise dies im Bildungsangebot der Schule zum Tragen kommen kann. Nicht um einfache, pragmatische Lösungen geht es noch um ein bloßes Reagieren auf die veränderte gesellschaftliche und auch kirchliche Situation, sondern darum, dem Hoffnungs- und Erneuerungspotential unseres Glaubens Geltung zu verschaffen, sowohl im Blick auf die Identitätsbildung der einzelnen Schülerinnen und Schüler als auch im Blick auf die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft im Sinne einer humanen weil solidarischen Gesellschaft.

Im folgenden ist das Proprium des Religionsunterrichts im Rahmen des Bildungsangebotes der Schule zu verdeutlichen, sind Voraussetzungen, Chancen und Konsequenzen zu benennen. Das Gesagte versteht sich als Beitrag zum laufenden Diskurs über die Stellung des Faches Religion im Bildungsangebot der Schule.

1. Gesellschaftliche Veränderungen erschweren zunehmend mehr die Identitätsbildung und Orientierung der jungen Menschen

Bezogen auf die Situation der Heranwachsenden, in der Selbstfindung stattfindet und Selbstverantwortung sich entwickelt, sind unter anderem die folgenden Zeitsignaturen zu benennen:

  • Die Ambivalenz der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte, einerseits Ausweitung individueller Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten, andererseits das An-sich-selbst-Verwiesensein bei Enttäuschung und Scheitern. Grenzerfahrungen aller Art und Scheitern gehören aber wesentlich zur menschlichen Existenz.
  • Die Ambivalenz der wissenschaftlich-technischen Entwicklung bis hin zur Revolution im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie und der Mediatisierung aller Lebensbereiche.
  • Das Vorausgehende bedingt einen Strukturwandel von Arbeit und Wirtschaft, das heißt neue Tätigkeitsmerkmale in allen Berufen mit hohen Anforderungen an die fachlichen, methodischen und sozialen Kompetenzen.
  • Damit verbunden ist eine weitere Differenzierung der Leistungsgesellschaft, in der Erfolg der Maßstab persönlicher Anerkennung ist.
  • Internationale wirtschaftliche Verflechtungen bis hin zur Dominanz über die Politik bei gleichzeitiger Ohnmacht angesichts der globalen Herausforderungen im ökonomischen und ökologischen Bereich (Makrofrust).
  • Partikularisierung der Wirklichkeitsbereiche, in denen sich das Leben abspielt: Leben müssen in Welten, die immer weniger miteinander zu tun haben (Familie, Beruf, Freizeit, Politik).
  • Pluralisierung der Lebensformen und sozialen Beziehungen bei gleichzeitiger Individualisierung und zunehmender Entsolidarisierung in Wechselwirkung mit einem permanenten Wandel der Wertvorstellungen, davon abhängend eine Erschwerung in der Verständigung über gemeinsame Werte.
  • Zunehmende Vermarktung religiöser Bedürfnisse.
  • Der Zugriff eines expandierenden Jugendkonsummarkts auf die jungen Menschen.

Je realistischer die gesellschaftliche, soziale und kulturelle Lebenswirklichkeit in den Blick kommt, in der die Heranwachsenden ihre besten Möglichkeiten entdecken und leben lernen sollen, um so deutlicher kommt auch in den Blick, was Staat, Gesellschaft, Kirchen und andere gesellschaftliche Gruppen den jungen Menschen an Orientierungshilfe schulden.

2. Aufgabe der Schule ist es, die Heranwachsenden in die politische, ge-sellschaftliche und kulturelle Realität einzuführen und sie dazu zu befähigen, diese kritisch-konstruktiv weiterzuentwickeln.

Junge Menschen sollen befähigt werden, ihre eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu entdecken, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen (Mündigkeit und Verantwortung), und so ihre eigene Identität zu entwickeln. Sie sollen befähigt werden, ihren Platz und ihre Aufgabe in der Gesellschaft wahrzunehmen, mitverantwortlich für eine kritisch-konstruktive Weiterentwicklung derselben im Sinne eines demokratischen Gemeinwesens auf der Basis des Grundgesetzes.

3. Innerhalb des Bildungsangebotes der Schule dient der Religionsunterricht der persönlichen Orientierung, der Motivierung und der Befähigung zur Übernahme politisch-sozialer Verantwortung aus dem Glauben.

Das Proprium des Religionsunterrichts heißt also: Orientierung aus der Mitte des Glaubens. Ausgehend von den Fragen und den Erfahrungen der Heranwachsenden und in Auseinandersetzung mit den ihnen angebotenen Sinndeutungen, hat der Religionsunterricht Zielvorstellungen und Orientierungen der jüdisch-christlichen Tradition zur Geltung zu bringen, sowohl in Bezug auf den einzelnen Menschen als auch auf die gesamte Menschheitsgeschichte.

Das Proprium des christlichen Religionsunterrichts ist nicht das Ethos, sondern der Glaube an den einen Gott,

  • der den Menschen als Partner will, ihn mit unverlierbarer Würde ausstattet, ihn mit Freiheit begabt und ermächtigt, das, was er vorfindet schöpferisch und verantwortlich weiterzuentwickeln,
  • der den Menschen einen neuen Himmel und eine neue Erde verheißen hat, in denen Gerechtigkeit wohnt, und der zu seinem Wort steht,
  • und der schließlich sein gnädiges Entgegenkommen wahrgemacht hat in einem leibhaftigen Menschen, in dem neuen Adam, Jesus Christus.

„Die Ethik ist nicht der Inhalt der Religion, aber Bewährungsprobe für ihre Glaubwürdigkeit“

(C. Fr. v. Weizsäcker)

Das Proprium des Religionsunterrichts bleibt der Indikativ der Geschichte Gottes mit den Menschen, Vertiefung jener Perspektive, die die gläubigen Schülerinnen und Schüler in die Schule mitbringt, und zugleich Einladung an Nichtgetaufte bzw. nicht religiös sozialisierte Kinder und Jugendliche, sich selbst, die Welt und die Geschichte mit den Augen des Glaubens sehen zu lernen. Was für die gesamte jüdisch-christliche Tradition gilt, das gilt auch für die Zukunft:

  • Ein neues, Zukunft eröffnendes Ethos gründet in einem neuen Wissen des Menschen um sich selbst,
    • unbedingt erwünscht zu sein,
    • liebevoll angenommen zu sein, auch im Scheitern und Versagen,
    • gerufen und berufen zu sein als Partner Gottes und Weggefährte der Menschen,
    • der Last enthoben, sich selbst produzieren, tragen und erlösen zu müssen
  • Ein neues, Zukunft eröffnendes Ethos gründet im Hoffnungspotential des Glaubens an Gottes Entgegenkommen und seine Gerechtigkeit.
  • Ein neues, Zukunft eröffnendes Ethos lebt von jenem eschatologischen Horizont, in dem es immer wieder seine Wirksamkeit entfaltet und darin zu einem unverzichtbaren Hoffnungsanker wird.

Der Religionsunterricht hat nicht nur angesichts der Verfassung, sondern mehr noch angesichts der zunehmenden Pluralisierung der Gesellschaft seine originäre Sinnperspektive ins Spiel zu bringen. Der weltanschauliche Dialog in der Schule und in der Gesellschaft und die gemeinsame Suche nach tragfähigen Wertvorstellungen leben von deutlich ausgewiesenen und überzeugend vorgetragenen Standpunkte. Die Grundlage für diesen Diskurs ist die in Artikel 4 des Grundgesetzes verankerte Glaubens- und Gewissensfreiheit.