Vortrag auf der Tagung des Bundesverbandes Kath. Religionslehrerinnen und -lehrer an Gymnasien 26. Februar 2000, Burkardus-Haus, Würzburg
Prof. Dr. Thomas Ruster
Universität Dortmund
Tagung des Bundesverbandes Kath. Religionslehrerinnen und -lehrer an Gymnasien,
26. Februar 2000, Burkardus-Haus, Würzburg
Die Welt verstehen „gemäß den Schriften“. Religionsunterricht als Einführung in das biblische Wirklichkeitsverständnis
1. Der systematische Ausgangspunkt
Mein systematisch-theologischer Ausgangspunkt ist die „Unterscheidung im Gottesverständnis“. Dies besagt, dass, nach dem 1. Gebot, Gott von den Göttern unterschieden werden muss, dass in dieser (polemischen, streitbaren!) Unterscheidung überhaupt erst herauskommt, wer der Gott der Bibel ist. Die „Götter“ verstehe ich dabei allgemein als Ausdruck für die höchste, alles bestimmende Wirklichkeit; für das, was die Pluralistische Religionstheologie mit John Hick die „Ultimate reality“ nennt und von der sie annimmt, dass alle Religionen irgendwie auf sie bezogen sind. Insofern in den Religionen Götter verehrt werden, impliziert die Unterscheidung im Gottesverständnis auch die Unterscheidung zwischen Christentum und Religion. Unterscheidung meint übrigens nicht Verwerfung oder Ablehnung, sie ist vielmehr die Voraussetzung für einen konstruktiven Dialog. Sie ist heute nicht nur gegenüber den klassischen Religionen zur Geltung zu bringen, sondern auch gegenüber dem, was Walter Benjamin bereits 1921 die „Religion des Kapitalismus“ genannt hat. Dieser Religion gehören heute die allermeisten Menschen an, vermutlich auch wir, und damit bekommt die Unterscheidung im Gottesverständnis biblische Kontur: Sie ist zu vollziehen inmitten einer von den Göttern dominierten Welt, in der Götzendienst die Normalform von Religion ist.[1] Ich markiere diesen Ausgangspunkt so deutlich, um klar zu stellen, von welcher Position aus ich mich der religionspädagogischen Fragestellung zuwende, die heute mein Thema ist. Keinesfalls will ich damit die Auffassung vertreten, die in der Religionspädagogik mit Recht so gereizte Reaktionen hervorruft: dass die Religionspädaogik nur die Vermittlung systematisch-theologischer Einsichten in die Praxis zu leisten habe. Zweifellos hat die Religionspädagogik ihren eigenen locus theologicus, und die Systematiker wären gut beraten, wenn sie von deren theologischen Erkenntnissen mehr Gebrauch machen würden als es gemeinhin geschieht. Aber es kann doch auch sein, dass die Religionspädaogik von einer bestimmten systematischen Perspektive auf ihr Problemfeld profitiert. Mein Ausgangspunkt hat in der Tat gewisse religionspädagogische Implikationen; schon die Problematisierung von „Religion“ deutet ja darauf hin. Im engeren Sinn geht es mir aber um die Frage, wie die Botschaft der Bibel bzw. der Gott der Bibel an Menschen vermittelt werden kann, die der Bibel fremd gegenüberstehen. Diese Frage stellt sich angesichts der wachsenden Christentums- und Bibelferne der heutigen Schülergeneration heute in verschärfter Form, sie wurde aber, etwa unter den Titeln „Erfahrung und Offenbarung“, „Botschaft und Situation“, „Glaube und Kind“, und, systematisch zugespitzt, „Natur und Gnade“, immer schon in der Theologie diskutiert.[2] Sie ist eigentlich eine Kardinalfrage des Christentums, die sich in dem Augenblick ergab, als im Zuge der Heidenmission der Raum, in dem die hebräische Bibel als bekannt vorausgesetzt werden konnte, verlassen wurde (Übrigens stellte und stellt sie sich auch für Juden, die sich in der Welt der Völker verständlich machen wollen; man denke an Philo von Alexandrien, von dem die altkirchliche Theologie nicht von ungefähr so viel gelernt hat). Das Neue Testament ist ja noch ganz im biblisch-jüdischen Idiom gehalten und mutet auch den heidenchristlichen Adressaten das Verständnis biblischer Zusammenhänge zu, ohne die weder Evangelien noch Briefe verstanden werden können. Wie aber spätestens die Auseinandersetzung mit der Gnosis zeigt, konnten biblische Äußerungen, losgelöst aus ihrem ursprünglichen Verständniskontext, auf verheerende Weise missverstanden werden. Durch den Gang zu den Völkern hatte sich der Referenzrahmen der biblischen Botschaft grundlegend geändert. Konnte im jüdischen Kontext auf zum Teil eigene, zum größeren Teil aber erinnerte Erfahrungen mit diesem Gott zurückgegriffen werden, so fiel diese Erfahrungsgrundlage bei den Heiden aus. Jüdisch geprägte Menschen wussten immer schon, von welchem Gott die Rede war – dem Gott des Exodus, dem Gott der Tora, dem Gott, der nach dem Exil einen Neuanfang ermöglicht hatte –; alles, was die apostolische Verkündigung über Gott zu sagen hatte, war auf diese geschichtlichen Erfahrungen mit dem Gott des Volkes Israel bezogen. Wenn nun vor Heiden von diesem Gott zu reden war, musste ein anderer Referenzrahmen für die biblischen Äußerungen gefunden werden. Gemäß der universalen Ausrichtung der christlichen Verkündigung kam als ein solcher Referenzrahmen nur die allgemeine menschliche Vernunft in Frage. Hier liegt die Entstehung der sog. Natürlichen Theologie, die die christliche Botschaft auf dem aufbauen lassen will, was alle Menschen im Lichte der natürlichen Vernunft von einem Gott wissen und einsehen können. Seit den Zeiten der frühchristlichen Apolegeten ging man dabei im Allgemeinen so vor, dass die Vorstellungen vom Höchsten, Einen, Wahren und Göttlichen zum Ausgangspunkt genommen und in sie die Besonderheit des biblischen Gottes eingetragen wurde. Diese Art der Vemittlung verlief allerdings nicht bruchlos – ich möchte nicht einfach der Hellenisierungsthese das Wort reden – , gerade an den entscheidenden Stellen haben die altkirchlichen Konzilien die Unterscheidung markiert. Aber ihre Plausibilität erhielt die christliche Gottesrede doch von dieser Beziehung auf das allgemeine, orausgesetzte Gottesverständnis, in der Antike überwiegend das platonisch-neuplatonische. Die spätere Aussage der neuscholastischen Theologie, das Dasein Gottes sei eine natürlich erkennbare und gewisse Wahrheit, und auch sämtliche Eigenschaften Gottes – mit Ausnahme der Dreieinigkeit und der Menschwerdung – könnten von der Vernunft eingesehen werden, ist Ausdruck dieser „geglückten“ Verhältnisbestimmung zwischen dem biblischen Gott und der vernünftigen Anschauung von einem höchsten Wesen, einer ersten Ursache, einem unbewegten Beweger usf. Sie wurde nicht von ungefähr immer dann aktualisiert, wenn gegenüber einer bibelfernen Kultur (wie sie die Neuscholastik in der Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jhds.antraf) das Christentum um seine Geltung stritt. Klassischen Ausdruck hat dieser Weg der natürlichen Theologie in den Gottesbeweisen erhalten: bei Thomas von Aquin läuft der Weg zur Erkenntnis, dass Gott ist, über die Identifikation des biblischen Gottes mit „dem, was alle Gott nennen“.[3] Verstehen wir Religion als Beziehung zur „ultimate reality“, als eine Chiffrierung der jeweiligen Erfahrungen mit der alles bestimmenden Wirklichkeit, dann kann man sagen: das Christentum ist erst auf diesem Wege zur Religion geworden. Man muss es als die große Leistung der christlichen Theologie anerkennen, den Gott der Bibel – den Gott eines kleinen machtlosen Volkes und eines Gekreuzigten – in jeder Zeit als alles bestimmende Wirklichkeit, eben als „Gott“ im vernünftigen Begriff verständlich gemacht zu haben. Der Preis, der für diesen beispiellosen Erfolg gezahlt wurde, war die Verwechselbarkeit Gottes mit den Göttern bzw. die notorische Unterbelichtung der Unterscheidung im Gottesverständnis. Die neuscholastische Theologie behandelt das Götzendienstverbot nur ganz am Rande, als ein lediglich historisches Problem, und es bedarf wohl nicht vieler Erläuterungen dafür, dass das Gottesbild der klassischen katholischen Theologie, das Bild des allesverursachenden, allmächtigen, vom Geschick der Welt in seinem Gottsein unberührten höchsten Wesens nicht geeignet ist, diesen Gott von den Götzen zu unterscheiden. Ich meine aber, dass diese Unterscheidungslosigkeit heute fatal wird, weil der Gott der Bibel zu dem, was in unserer Zeit als alles bestimmende Wirklichkeit erfahren wird – das Geld – in keine vernünftige Beziehung mehr gesetzt werden kann. Der Bedeutungsverlust des traditionellen Gottesglaubens und überhaupt des Christentums als Religion kommt daher. Damit ergibt sich das Problem: Ist es möglich, im Gegenzug zum dominanten Strang der bisherigen Theologie die Fremdheit der Bibel und ihrer Erfahrungen nicht in die Vertrautheit der Religion aufzuheben, sondern sie gerade in ihrer Fremdheit als Grundlage des christlichen Glaubens zu präsentieren? Anders gesagt: Wenn es stimmt, dass Glaube und Erfahrung immer zusammengehören: Kann sich die gläubige Identität der Christen auch auf fremder, nicht eigener Erfahrung begründen? Ist Teilhabe an fremder Erfahrung möglich?
2. „Wende zum Subjekt“ und „Elementarisierung“ im Religionsunterricht
Im Religionsunterricht spielt die Unterscheidung im Gottesverständnis keine Rolle, im Gegenteil: für die Religionsdidaktik unserer Zeit ist es typisch, an das Gottesverständnis der Kinder und Jugendlichen anzuknüpfen und ihnen das christliche Gottesverständnis in dem damit gegebenen Rahmen zu erläutern. Diese Behauptung kann ich hier nicht begründen, ich folgere sie einfach aus den mir bekannten Materialien zum Religionsunterricht sowie aus den Unterrichtsstunden, an denen ich als Schüler oder Begleiter von Praktika teilgenommen habe. Ich wäre froh, würde mir das Gegenteil bewiesen! Mit meiner Behauptung soll aber kein Vorwurf ausgesprochen werden, gibt es doch gute theologische und pädagogische Gründe, die die Praxis des Religionsunterrichts stützen. Da ist zuerst die auf der Unbestimmtheit des Begriffs Religion beruhende Unklarheit über den Gegenstand des Religionsunterrichts: Hat er in das Christentum einzuführen oder nicht vielmehr in den Bereich der Religion(en) allgemein, mit einem bloß kulturbedingten Schwerpunkt auf dem Christentum? Viele meiner Studentinnen und Studenten plädieren für das Letztere und fordern für das Theologiestudium eine gründliche Beschäftigung mit den Religionen ein; sie verweisen darauf, dass ja längst nicht mehr nur christlich geprägte Kinder im Religionsunterricht sitzen. Und warum sollte man das auch nicht so sehen: Aufgabe des Religionsunterrichts wäre es dann, über Religion zu informieren, den Schülerinnen und Schülern die religiöse Tiefendimension des Dasein zu erschließen – sicher zunächst am Beispiel des Christentums – und sie zu befähigen, die komplexe multireligiöse Situation heute kompetent und dialogbereit zu bestehen. So kann er auch einen Beitrag leisten zur religiösen Entwicklung des Kindes, die, wie man aus der Entwicklungspsychologie weiß, ohnehin stattfindet.[4] Neben diese pädagogische Begründung tritt die theologische, die mit dem Begriff der „Wende zum Subjekt“ angedeutet ist. Welche Bedeutung hierfür die Theologie Karl Rahners hat, brauche ich nicht zu erläutern. Auf ihren Spuren kann man denken, dass – in Rahners Worten – „das Geheimnis Gottes in seiner Unumgreifbarkeit […] das Selbstverständliche ist“, denn es verweist auf ein „gleichsam anonymes und unthematisches Wissen von Gott„.[5] An dieses unthematische Wissen kann religionspädagogisch angeknüpft werden, der christliche Gott als das Ziel der Suche nach dem das Leben tragenden und es umgreifenden absoluten Geheimnis ausgewiesen werden. Rahners Theologie kann man als den Abschluss des alten theologischen Streits um die Verhältnisbestimmung von „Natur und Gnade“ lesen. Befürworter eines theologischen und religionspädagogischen „Naturalismus“ – der christliche Glaube ist als die Erfüllung des natürlichen Strebens nach Religion zu explizieren, er ist dadurch auch pädagogisch zu rechtfertigen – rangen lange mit den Vertretern eines „Primats der Übernatur“, die die Unableitbarkeit und Fremdheit der Botschaft betonten und die sich den Religionsunterricht nicht anders als die Lehre von den geoffenbarten Wahrheiten des Glaubens vorstellen konnten.[6] Rahner hat dann klargestellt, dass der Begriff der reinen Natur ein Unding ist, die Natur des Menschen vielmehr immer schon gnadenhaft finalisiert ist. Damit war der Religionspädagogik der Weg aus konfessionalistischer Enge gewiesen und der Verdacht entkräftet, die Schüler würden mit der Lehre der Kirche indoktriniert. Die für Rahner konstitutive Voraussetzung, erst aufgrund der Inkarnation sei von solcher gnadenhafter Finalisierung der Natur zu reden, wurde dann im Zuge der Suche nach der natürlichen Religiosität der Kinder gerne vergessen.[7] Die „Wende zum Subjekt“ erlaubt, wie erwähnt, vor allem auch eine pädagogische Fundierung des Religionsunterrichts. Die Schülerinnen und Schüler können in ihrem Subjektsein nun ganz ernst genommen werden. Die der Religionspädagogik ehemals vorgeworfene „Verleugnung des Kindes“ scheint überwunden zu sein. Nach R. Englert kennzeichnet es die jüngere Phase der Religionspädagogik, das Subjekt, d.h. die Schülerinnen und Schüler, deren Aneignungsvoraussetzung und Lebensbedürfnisse als „Kriterium“ zu nehmen „für die Berücksichtigung des sachlichen Gehalts religiöser Traditionen“, während die ältere Religionspädagogik die „Botschaft“ als Kriterium dafür nahm, „in welchem Ausmaß den Lebensansprüchen des Subjekts Beachtung zu schenken sei“[8]. Das Programm der „Elementarisierung“, das mit großem Einfluss im katholischen Raum vor allem von den evangelischen Religionspädagogen Schweitzer und K.E. Nipkow vertreten wird, spricht denn auch konsequent von der Zweipoligkeit des Religionsunterrichts. Auf der einen Seite stehen die „elementaren Strukturen“ und die „elementaren Wahrheiten“, auf der anderen Seite aber die „elementaren Erfahrungen“ und die „elementaren entwicklungsbedingten Zugänge“ der Schülerinnen und Schüler.[9] An den „Wahrnehmungs- und Assimilationsformen festgefügter tiefenstruktureller Art“[10] gehe im Unterricht kein Weg vorbei, denn sie bestimmen, was sich die Kinder von der Sache überhaupt aneignen können. Die Schülerinnen und Schüler assimilieren sich die biblischen Geschichten in den eigenen Verstehenshorizont, der umweltbezogen und entwicklungsbedingt präformiert ist. Dabei werden dieser Verstehenshorizont bzw. die elementaren Zugänge aus der Entwicklungspsychologie erhoben. Eine ausschlaggebende Rolle für die Konzeption von Schweitzer et al. spielen die diversen Stufenmodelle von Piaget, Kohlberg, Oser/Gmünder und Fowler. An ihnen sei jeweils ablesbar, wo ein Kind in seiner Entwicklung steht und wie es demgemäß die Glaubensaussage verstehen wird. Wie nun aber die ausführlich dokumentierten Unterrichtsstunden des Elementarisierungsprojekts zu den Themen „Gleichnisse“, „Gottesfrage“ und „Gerechtigkeit“ ( in den Klassen 5/6 und 10) zeigen, bleibt unter dem Kriterium der Aneignungsbedingungen der spezifisch biblische Gehalt der behandelten Themen auf der Strecke. Die Logik des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg lässt sich nicht mit dem Weltbild der Kinder vereinbaren; das Gleichnis vom verlorenen Sohn wird in eine heutige Familiengeschichte transformiert, in der beide Seiten ihre Fehler zuzugeben haben. Der bei der Gotteserfahrung bzw. den Gottesvorstellungen ansetzende Unterricht bleibt sprachlos vor dem biblisch bezeugten Handeln Gottes, und vollends beim Thema Gerechtigkeit ist auch nicht eine Spur des biblischen Gerechtigkeitsverständnisses anzutreffen, das nun einmal nicht mit den aristotelischen Kategorien (nach denen das Thema im Unterricht strukturiert ist) einhergehen. Das Wirklichkeitsverständnis der Schüler und Schülerinnen steht offenbar fremd zum Wirklichkeitsverständnis der Bibel, es kann nicht einfach assimiliert werden. Die Verfasser bemerken diese Kluft und sprechen davon, dass bestehende Wahrnehmungs- und Denkstrukturen durch die Bibel auch aufgebrochen werden müssen; voraussetzungsgemäß beharren sie aber darauf, die neue, ganz andere Sicht könne nicht „ohne die Verstehensfolie der alten Erfahrungen und Ansichten aufgehen“[11]. Die Zweipoligkeit gerät so zum garstigen Graben, der von einem durch die „festgefügten“ Aneignungs- und Assimilationsformen der Kinder normierten Unterricht nicht übersprungen werden kann. Die der Elementarisierung gestellte „Aufgabe, wie sich Grundlegendes (‚Fundamentales‘) des Christentums […] in Unterrichts-, Lern- und Entwicklungsprozessen elementar erschließt“[12], wird gerade nicht bewältigt, die „Doppelbewegung zwischen Schülern und Inhalten“[13] kommt nicht zustande. Überdeutlich ist der Konflikt zwischen den Wirklichkeitsverständnissen bereits beim ersten Zugang zu biblischen Texten. Diese stehen (jedenfalls bei Schülern der Kl. 10) unter den prinzipiellen Zweifel, dass man das alles nicht nachprüfen kann; die erste Frage an die Bibel ist die nach der Tatsächlichkeit des dort Berichteten.[14] Im Sinne dessen, was im heutigen Weltverständnis als Tatsache gilt, fallen die meisten biblischen Geschichten aus dem Bereich des Wirklichen schlicht heraus. Was Tatsachen sind, darüber müsste biblisch-theologisch erst noch gestritten werden, und ein Religionsunterricht kommt m. E. erst da an sein Ziel, wo das biblische Verständnis von Wirklichkeit geteilt und von dorther geurteilt wird, was in unserer Lebenswelt tatsächlich ist. Die pädagogisch angeblich unabweisliche Orientierung an den Erfahrungen und dem Wirklichkeitsverständnis der Schülerinnen und Schüler hat aber diese Frage immer schon entschieden, und zwar gegen die Tatsächlichkeit der Bibel.
3. Religionsunterricht als Begegnung mit fremden Welten (Religionsunterricht und Semiotik)
Die Fremdheit biblischer Texte, die dem Elementarisierungskonzept zum Problem wird, macht für einen anderen neueren religionspädagogischen Entwurf gerade das Eigene des Religionsunterrichts aus und stellt dessen besondere Chance gegenüber anderen Fächern dar. Michael Meyer-Blanck, Wilfried Engemann und andere haben im Umkreis des Religionspädaogischen Instituts Loccum versucht, die Semiotik für die Theologie fruchtbar zu machen und sind dabei zu Einsichten gelangt, die die Aporien der subjektorientierten Ansätze zu überwinden geeignet erscheinen.[15] Die Semiotik fasst die Welt als einen vornehmlich durch Sprache sowie andere Zeichen gestifteten Bedeutungszusammenhang auf. Jede Wirklichkeit ist konstitutiert durch einen Zeichencode, in dem sich die Angehörigen einer Welt miteinander verständigen. Jede Zeit hat ihre „Enzyklopädie“, die das Wörterbuch, aber auch Koreferenzregeln, Selektionen über das, was als bedeutsam gilt, und eine Liste typischer Situationen, die in der Lebenswelt und in den geläufigen Texten immer wieder vorkommen, enthält. Demgemäß gibt es nicht die Wirklichkeit; die Vorstellung, Wirklichkeit sei das außersprachliche Kontinuum der Welt, das Gegenwart und Vergangenheit miteinander verbindet und mit der man sich immer schon auskennt, weil man ja in ihr lebt, ist damit aufzugeben. Meyer-Blanck macht den semiotischen Ansatz zunächst gegen die Symboldidaktik geltend, insoweit in dieser unterstellt wird, in den Symbolen habe man es mit Wirklichkeit, gar mit tieferer Wirklichkeit oder mit einem Set von Archetypen zu tun und könne durch durch symbolisches Verstehen an dieser zeitlosen Wirklichkeit Anteil haben. Solche bei Halbfas und Biehl anzutreffenden Ideen beruhen auf einer Entgegensetzung von Symbol und Zeichen, die zwar immer wieder nachgesprochen wird, einer semiotischen Analyse jedoch nicht standhält. Auch Symbole sind nur Zeichen, und sie erhalten ihre Bedeutung – gut protestantisch-sakramententheologisch gesprochen – niemals „extra usum“: erst ihr Gebrauch in einem bestimmten Zeichensystem lädt sie mit Sinn auf.[16] Religionsunterricht, so führen Stefan Alkier und Bernhard Dressler diese Überlegungen fort, kann als die Begegnung mit einer fremden Welt verstanden werden, mit einem anderen Zeichenuniversum, wie es uns in der Bibel entgegentritt und das zur Entdeckung einlädt. Nicht die Orientierung an den gewohnten Wahrnehmungsmustern der Schülerinnnen und Schüler ist jetzt mehr angesagt, sondern die Auseinandersetzung mit einem anderen Wirklichkeitsverständnis, einem anderen Zeichencode voller Überraschungen. Das Verhältnis zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Sache‘ ist dann als das Verhältnis zwischen Rezipienten-Code und Werk-Code neu zu fassen.[17] Der Rezipient – die Schülerinnen und Schüler, aber auch die Lehrer – werden im Religionsunterricht mit Zeichen und Verknüpfungsregeln konfrontiert, die ihnen bisher unbekannt sind. Aber sie können immer tiefer in sie eindringen, sie zu entziffern versuchen. Am Beispiel der biblischen Wunder zeigt Alkier auf, wie die gesamte neuzeitliche Wissenschaft und in ihrem Gefolge auch die Religionspädagogik versucht haben, diesen ihren Charakter des Wunderbaren zu nehmen und sie durch irgendwelche rationalistischen Manöver in das neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis einzupassen; ihr Sinn kann dann nur noch entmythologisiert, metaphorisch oder tiefenpsychologisch ausgemacht werden – wo man nicht trotzig-fundamentalistisch ihre Tatsächlichkeit im Sinne im historischen Sinn weiter behauptet.[18] Die „Semiotik des Wunderbaren“ versucht demgegenüber die Wirklichkeitsannahmen und Wahrheitsansprüche aufzudecken, die die Texte über die Wunder enthalten. Dazu ist es notwendig, die Zeichen (Semantik) und Zeichenbeziehungen (Syntagmatik) in den Texten zu entschlüsseln und nach den Beziehungen zwischen Text und LeserInnen zu fragen (Pragmatik). Der intertextuelle Vergleich hilft, die Zeichen und ihre Verknüpfungsregeln zu verstehen. Er zeigt, dass ein Text in ein bestimmtes „kulturelles Gedächtnis“ (Jan Assmann) verwoben ist und es zugleich transportiert. Am Beispiel der Wunder wird jedenfalls deutlich, „daß eine Religion nicht wirklich erschlossen werden kann, wenn sie […] zuvor auf das reduziert wird, was mit unseren Rationalitätskriterien vereinbar ist. Die Unterstellung, wir seien klüger als die Überlieferung, nur weil wir sie nicht verstehen, zieht der Bibel alle kritischen Zähne.“ Dabei geht es nicht um ein sacrificium intellectus, sondern um die Bereitschaft, sich an einer fremden Tradition zu reiben, „sich mit ihr zu streiten“.[19] In solcher Begegnung und solchem Streit könnte dem Religionsunterricht womöglich die Langweiligkeit genommen werden, der er durch die Orientierung am Gewohnten und dessen beständige Affirmation nicht entkommen kann. Biblische Texte, so noch einmal Alkier und Dressler, „sollten grundsätzlich als fremde Welten gelesen werden, die wir ganz neu erkunden müssen, als wären wir die Crew von Captain Kirk, Captain Picard, oder besser noch wie Captain Janeway und die Besatzung vom Raumschiff Voyager oder die Neuankömmlinge auf Earth 2. Wir kennen die Gesetze der fremden Welten nicht, und wir müssen unbedingt damit rechnen, daß die Gesetze und Regeln, die in diesen fremden Welten herrschen, andere sind, als die, die unsere Welt bestimmen.“ Der Lehrer im Religionsunterricht ist der erfahrene Captain, aber auch er lebt in der Welt der Crew. Lehrer und Schüler „stehen gemeinsam vor der Aufgabe, die fremde Welt zu erkunden.“[20] In dieser Idee liegt auch eine enorme Entlastung für den Lehrer, denn der Erfolg des Unternehmens hängt nicht allein von ihm ab, die ganze Crew muss mitziehen. „Allerdings ist ein Captain, der die fremde Welt nicht als fremde Welt zu sehen bereit ist, oder ein Captain, der meint, die Besatzung besser zu kennen als sie sich selbst kennt, sie über- oder unterschätzt, eine Gefahr für das ganze Unternehmen.“[21] Zur fremden Welt gehört auch ein fremder Gott. Auch er ist erst zu entdecken, auch in Bezug auf ihn ist unbedingt damit zu rechnen, dass er sich nicht an die Gesetze und Regeln hält, die in unserer (religiösen) Welt und in unseren Vorstellungen vom Göttlichen herrschen. So hätte die Unterscheidung im Gottesverständnis in einem so konzipierten Religionsunterricht ihren Platz. Dabei kann es sich nicht darum handeln, die Wirklichkeitsverhältnisse zwischen Gott und Welt abbilden zu wollen oder gar zu sagen, wie Gott ist. Aber die biblische Rede von Gott muss auf ihren bibelinternen Zeichenzusammenhang hin befragt werden, soll herauskommen, wie in der Bibel von Gott gedacht wird. Denn von außerbiblischen Voraussetzungen aus kann nichts über den Gott der Bibel erschlossen werden, auch nicht von den Symbolen und Metaphern aus, die gemeinhin auf etwas Göttliches hindeuten. Wenn beispielsweise im Rahmen des schülerzentrierten Elementarisierungsprojekts gesagt wird, die Kinder könnten erst dann die Rede vom „Licht der Welt“ in Joh 1 verstehen, wenn sie sich über die metaphorisch-symbolische Bedeutung von Sonne und Licht klargeworden sind, dann ist der Code, mit dem bei Johannes vom Wort Gottes als dem Licht gesprochen wird, völlig außer Acht gelassen. Im biblischen Zeichenuniversum fällt bei ‚Licht‘ zuallererst Israel ein, das nach Jes 42,6 und 60,1-3 das „Licht der Völker“ ist, nämlich dadurch, dass es diesen die Gerechtigkeit der Tora bringt. Dann heißt es nun über Jesus: „Er war das wahre Licht“ (Joh 1,9), und man kann verstehen, dass er das Israel unter den Völkern durch die Art von Toragerechtigkeit ist, die er lebt und lehrt. Und dann versteht man auch Joh 1,5: „Das Licht scheint in der Finsternis, aber die die Finsternis hat’s nicht ergriffen“. Hier hilft die gemeinreligiöse Sonnenmetaphorik nicht mehr weiter, und ein Gott kommt zum Vorschein, der bei seiner Gerechtigkeit ergriffen werden will und sich dazu eines Gerechten als Wort bedient. Und auch der Geist ist hier gleich mitgemeint, der „den Völkern die Wahrheit verkündet“ und „nicht ermattet, bis er das Recht auf Erden begründet“ (Jes 42,1-4) und den Johannes den „Geist der Wahrheit“ nennt, „den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht kennt“ (Joh 14,17). Soweit reicht auch nur die kürzeste Verknüpfung, die von Joh 1 aus in die Bibel reicht. Ein Religionsunterricht, der es so weit brächte, dass die Kinder bei ‚Licht‘ gleich auf Israel kommen, hätte schon ein wenig vom biblischen irklichkeitsverständnis aufgedeckt. Und dann werden die Fragen, das Reiben und der Streit kommen: Was ist das für ein Gott, der ein kleines, schwaches Volk zu seinem Licht in der Welt machen will? Was ist denn an diesem Volk so Besonderes, dass Gott durch es sein Licht leuchten lassen will? Wo mag das Licht heute leuchten? Hingegen stellt der Ausgang bei der Lichtmetaphorik die Fragen vermutlich ruhig. Da weiß man dann nur, dass sich religiöse Menschen Gott wie die Sonne vorstellen – und weiß dabei schon immer, dass an der Sonne nichts Göttliches ist, dass es sich bei Joh 1 also nur um ein Symbol handelt.
4. Das biblische Wirklichkeitsverständnis
Der kleine Exkurs zum ‚Licht‘ soll bereits andeuten, was ich unter dem bisher unerklärt gelassenen Ausdruck vom „biblischen Wirklichkeitsverständnis“ verstehe. Aber auch jetzt wird mir eine vollständige Erklärung nicht gelingen, denn das hieße, die ganze Bibel auf den Begriff zu bringen. Theologie überhaupt und Dogmatik insbesondere wird man als den Versuch beschreiben können, immer tiefer in das Wirklichkeitsverständnis der Bibel einzudringen und in ihrer Weise denken zu können. Dieser Prozess kann niemals abgeschlossen werden. Den Begriff „biblisches Wirklichkeitsverständnis“ habe ich von Friedrich-Wilhelm Marquardt übernommen[22], der seinem Sinn in seinen Schriften ständig nachspürt und ihm wohl in der heutigen Theologie am nächsten gekommen ist. Marquardt geht von dem unablässigen Rückbezug des Neuen Testaments auf das Alte aus. Was von Jesus berichtet wird, muss seinen Sinn, ja noch mehr: seine Wirklichkeit erweisen „gemäß den Schriften“, nämlich der hebräischen Bibel. Woher weiß Paulus, dass Christus „am dritten Tage auferweckt“ worden ist (1 Kor 15,4)? Wieso kann er dem glauben, was ihm überliefert worden ist? Er konnte es glauben, weil es „gemäß den Schriften“ war. Dabei ist von der Auferweckung Jesu in der hebräischen Bibel nicht die Rede. Aber dass Gott am dritten Tage wieder aufrichtet, konnte Paulus bereits aus Hosea 6,1-3 wissen: „Kommt, lasst uns umkehren zu dem Herrn; denn er hat zerrissen, er wird uns heilen; er hat geschlagen, er wird uns verbinden. Nach zwei Tagen wird er uns neu beleben, am dritten Tage uns wieder aufrichten.“[23] Hoseas Tagespruch gab den Auferstehungszeugen das Zeitmaß für die Erweckung Jesu von den Toten.[24] Hätte man Paulus gesagt, Jesus sei nach fünf Tagen auferweckt worden, wäre ihm das ganz unwahrscheinlich vorgekommen, so wie wir es mit Recht bezweifeln würden, würde jemand behaupten, er sei in sechs Minuten von Köln nach München gefahren. Stillschweigend würden wir nach unserem Wirklichkeitsverständnis berichtigen: in sechs Stunden. Unser Wirklichkeitsverständnis richtet sich überwiegend nach den Naturgesetzen, das biblische nach den Schriften. Der jüdische Philosoph Jacob Taubes erklärt: „Nach jüdischer Auffassung ist die Realität der äußeren Welt nicht an Naturgesetzen (halichot olam) ablesbar, sondern wird durch die Torah, das göttliche Gesetz (halacha) repräsentiert.“[25] Die Tora gibt die Strukturen vor, in denen erfasst werden kann, was Wirklichkeit ist, ja überhaupt, was wirklich ist. Das gilt, um noch einmal zu Paulus zurückzukehren, auch für die Frage nach der Auferweckung Jesu selbst. Unserem vom „Sein zum Tode“ bestimmten Wirklichkeitsverständnis ist solches neue Leben jenseits des Todes unfassbar, und deswegen steht die Auferweckung immer im Geruch der Unwirklichkeit. Paulus wird auch seine Zweifel gehabt haben, aber er erklärt es sich „gemäß den Schriften“. „Wo ist die Auferstehung von den Toten in der Tora angedeutet? Woher ist zu entnehmen, daß der Heilige, gepriesen sei er, die Toten beleben wird?“[26] Diese Frage haben sich außer Paulus auch andere jüdische Schriftgelehrte gestellt. Der Talmud enthält im Traktat Synhedrin eine Diskussion jüdischer Lehrer dazu, an der zu ersehen ist, wie man dem „gemäß den Schriften“ von 1 Kor 15,4 auf die Spur kommen kann. Wie fremd ist uns historisch-kritisch informierten Bibellesern doch dieser jüdische Zugang! Da werden Stellen aus der gesamten hebräischen Bibel herangezogen, auch solche, die mit dem Thema zunächst gar nichts zu tun zu haben scheinen. Worte, Buchstaben werden auf ihre Bedeutung abgeklopft, da ergeben sich dann oft Hinweise auf andere Stellen, die nun noch beigezogen werden. Auf die Zeitformen wird haargenau geachtet, der innerbiblische Geschichtszusammenhang wird eingespielt, Unstimmigkeiten und Widersprüche werden breit diskutiert. Was sich die durch die Semiotik angeregten Theologen von der Bibellektüre erwarten, ist im Talmud längst geschehen: Entdeckungsreisen in das biblische Zeichenuniversum. Nichts in der Bibel ist ja umsonst geschrieben, so lautet der Grundsatz der talmudischen Exegese, man muss nur die Zeichen zu entschlüsseln wissen. Denn an allem ist ablesbar, was von Gottes Wort her wahr und darum wirklich ist oder zumindest sein kann. Auch die Auferstehung. „Gottesgesetz, nicht Naturgesetz ist die Kategorie, unter der die Auferweckung der Toten gedacht werden soll.“[27] Gottesgesetz nicht nur als Interpretament dessen, was ohnehin besteht und nach den Naturgesetzen zu begreifen ist, auch nicht nur als Gesetz für einen gesonderten Bereich der Wirklichkeit, den religiösen. „Die Tora will das Gesetz der Wirklichkeit im Ganzen sein, nicht einer Teilwirklichkeit.“[28] Die Bibel leitet an zu einer bestimmten Art, die Wirklichkeit zu verstehen; Glaube heißt, am biblischen Wirklichkeitsverständnis teil zu haben und von ihm aus die Welt zu sehen. „Der Glaube kommt vom Hören“ (Röm 10,17). Das ist eine treffende Bemerkung, denn das biblische Wirklichkeitsverständnis kommt aus der Sprache (der Tora), nicht aus der Natur, den Gegenständen. Gegenüber unserer empirischen Erkenntnisart vertritt die Bibel eine andere Wahrnehmungskultur. Das ist Hebr 11,1 gemeint: „Der Glaube ist ein festes Vertrauen auf das Erhoffte, ein Überzeugtsein von dem, was man nicht sieht.“ Das bedeutet nicht, dass sich der Glaube nur auf Jenseitiges, Noch-nicht-Wirkliches oder gar Unwirkliches bezieht. Vielmehr: „Durch Glauben erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort gebildet wurde“ (Hebr 11,3): Gottes Wort ist ihre innere Struktur. Von dem aus, was man nicht sieht sondern hört, ergibt sich ein neuer Blick auf alles, was man sieht: „Durch den Glauben erkennen wir, dass alles, was man sieht, aus nichts geworden ist“ (ebd.).
Soviel zu einer vorläufigen formalen Kennzeichnung des biblischen Wirklichkeitsverständnisses. Noch vorläufiger wird es sein, zumindest einige inhaltliche Momente dieses Wirklichkeitsverständnisses zu benennen. Ich möchte dennoch nicht darauf verzichten, schon um den Unterschied zum heute selbstverständlichen Wirklichkeitsverständnis herauszustellen, auf den es mir im Blick auf den Religionsunterricht ankommt. Nur drei Aspekte seien genannt:
- Alles hängt davon ab, welchen Gott man hat. Oder genauer: Den Geboten welchen Gottes man folgt. Dabei geht es um Leben und Tod. Dtn 30,15-20 formuliert das Grundgesetz biblischen Denkens und Lebens: „Siehe, heute habe ich dir vor Augen gestellt Leben und Heil, Tod und Unheil. Wenn du den Geboten Jahwes, deines Gottes, gehorchst, wirst du am Leben bleiben, dich mehren … Wenn du dich aber verführen lässt, fremde Götter anzubeten und ihnen zu dienen, so kündige ich euch heute an: Ihr werdet unfehlbar zugrunde gehen.“ – Unserer Privatisierung des Religiösen ist dieser Grundsatz unzugänglich. Wir folgen, ob wir es wollen oder nicht, den Gesetzen von Ökonomie und Geldwirtschaft, und damit hat die Religion nach allgemeinen Dafürhalten nichts zu tun.
- Die Kunst es Unterscheiden-Könnens ist der Grund der Gerechtigkeit. Israel, das herausgerufene Volk, erfährt seine Identität in Unterscheidung zu den Völkern. Von daher kommt die Erkenntnis: Unterscheiden ist schöpferisch! Die Schöpfungsgeschichte erzählt davon. Verbote gegen die Vermischung bestimmen die ganze Tora. Nur zwischen bleibend Unterschiedenen kann es Gerechtigkeit geben: zwischen Mann und Frau, Juden und Griechen. Röm 1,16: „den Juden zuerst, dann auch den Griechen“, das gilt weltgeschichtlich. Dem entspricht die Bedeutung des Richtens in der Bibel. Gott wird als Richter angerufen, er wird einst zum Gericht kommen, zum rechten Unterscheiden. Christen wissen noch: Jesus wird beim Gericht zur Rechten des Vater sitzen und mitrichten. Das Gericht Gottes vollzieht sich in der Unterscheidung von Vater und Sohn, zwischen des Vaters und Jesu Blick auf die Menschen.– Gegen die biblische Lust am Differenzierten steht die abendländische Tendenz, das Allgemeine zu suchen unter Absehung (Abstraktion) von dem Besonderen, so in Mythos und Metaphysik. Die Geldwirtschaft hat die Abstraktion zum Prinzip alles Bestehenden gemacht: Alles ist auf den abstrakten Geldwert beziehbar und damit austauschbar. Damit ist verbunden das wissenschaftliche Bestreben, das einzelne in seiner Verallgemeinerbarkeit zu fassen. In jedem wissenschaftlichen Experiment geht es um Separation, Wiederholbarkeit und Homogenität. Der Rechtsgrundsatz der Gleichheit hat das Anwachsen der Ungleichheit nicht verhindern können.
- Biblische Grunderfahrung mit Gott ist das Wissen um die Fülle: Für alle ist genug da. Die Erfahrung der Fülle lässt auf Vorsorge verzichten. Daraus kommen Reichtum und gutes Leben. Zinsverbot, Schuldennachlass, Sabbatjahr etc. sorgen dafür, dass nicht das Vorsorgebestreben der einen die anderen arm macht. – Dagegen ist unser ökonomiebestimmtes Leben (Ökonomie ist die Verteilung knapper Güter) durch die Grunderfahrung des Mangels gekennzeichnet. Die Geldwirtschaft (Geld ist ein Mittel künstlicher Knappheit) hat diese Erfahrung allgemein gemacht und auf nicht-ökonomische Güter ausgedehnt. Leben als Kampf um knappe Güter heißt theologisch Sünde. Aus dem Mangel kommt die Sorge, aus der Sorge die Vorsorge. Die Gefährlichkeit des Geldes hängt damit zusammen: es kann unbegrenzt Reichtum aus der Gegenwart in die Zukunft verlagert werden; die Gegenwart wird arm. Die Anhäufung unproduktiven Vorsorge- und Spekulationskapitals auf der einen Seite zieht Schulden auf der anderen Seite nach sich. Bei „Fülle“ und „Mangel“ geht es zuletzt um den Gegensatz: Gegenwarts- oder Zukunftsorientierung. Mehr als Schlaglichter sollten das nicht sein. Zu verdeutlichen ist nur, dass biblisches Wirklichkeitsverständnis uns heute sehr fern ist. Dieser Abstand zur Bibel hängt vermutlich mit der totalen Durchsetzung der Geldwirtschaft zusammen. Bedenkt man, in welchem Ausmaß Schülerinnen und Schüler heute geldbestimmt leben, fühlen und denken, wird die Herausforderung an den christlichen Religionsunterricht so recht deutlich. Das Programm der Assimilation der biblischen Geschichten in den eigenen Denkhorizont erscheint aussichtslos.
5. Religionsunterricht als Einführung in das biblische Wirklichkeitsverständnis und die Teilhabe an fremder Erfahrung
Wie soll nun das biblische Wirklichkeitsverständnis im Religionsunterricht vorkommen? Die Überlegungen zu Semiotik und Religionspädagogik haben dazu schon Hinweise gegebenen, aber insgesamt betreten wir mit dieser Frage Neuland. Ich möchte neben das Bild von der Raumschiff-Crew ein anderes stellen: Das Christentum, die Repräsentanz des biblischen Wirklichkeitsverständnisses unter den Völkern, kann verglichen werden mit einem italienischen Restaurant inmitten von McDonalds und BurgerKing, irgendwo in der amerikanischen gastronomischen Wüste. Sofort ist klar, vor welchen Herausforderungen der Besitzer des Restaurants steht. Einerseits muss er seinen italienischen Ursprüngen treu bleiben, denn auf ihnen beruht die Attraktivität seiner Speisekarte. Andererseits muss er auf seine Fast-Food gewohnte Klientel eingehen und ihren Wünschen entgegenkommen, um den Erfolg seines Unternehmens zu sichern – ein schwieriger Balanceakt, der sich auf die christliche Mission beziehen lässt.[29] Nun stelle man sich vor, amerikanische Lehrlinge sollen in der Küche des Restaurants angelernt werden – das ist etwa die Situation des Religionsunterrichts. Wie kann ihnen, die ihre Freizeit bei McDonalds verbringen, die fremde italienische Kultur und Kochkunst vermittelt werden? Man kann die Dinge noch komplizieren (und den Vergleich sicherlich überstrapazieren) und sich denken, dass auch der Küchenchef kein geborener Italiener ist, sondern sein Handwerk nur erlernt hat. Dann hätte man etwa die Lage des Religionslehrers. Nun wäre zunächst eine Art historisch-kritische Einführung in die italienische Gastronomie möglich. Die ursprüngliche Gestalt der Rezepte würde „literarkritisch“ rekonstruiert, die Redaktionsgeschichte verfolgt und spätere Zusätze zu den Rezepturen aufgedeckt. Auch sozialgeschichtliche Informationen wären nützlich, die tief in die vergangene Welt Italiens hineinführen und auch „formgeschichtlich“ den „Sitz im Leben“ von Pasta, Pizza und Saltimbocca erklären. Das alles ist wichtig, aber kochen lernt man dadurch noch nicht. Ein anderer Ansatz wäre die korrelative Methode. Die Lehrlinge würden bei ihren eigenen Geschmackserlebnissen abgeholt, ihr Sinn für das gute Essen würde geschärft und erweitert. Man könnte zeigen, dass auch der Hamburger letztlich von der Sehnsucht nach dem wahren, dem wirklich guten Mahl inspiriert ist. Vielleicht gibt es sogar Archetypen des guten Geschmacks, auf die zu rekurrieren wäre. Die amerikanischen Jugendlichen könnten sich von der italienischen Küche dazu anregen lassen, bei McDonalds Vorschläge für eine bessere Speisekarte einzubringen. Der unverwechselbare Charme der italienischen Gastronomie ginge dabei aber vermutlich verloren; am Ende käme so etwas wie Pizzaburger heraus. Wie kann man aber jenes gewisse Etwas erlernen, dass die wirklich gute Küche ausmacht? Das Wissen darum, wann dieses, wann jenes Gewürz dazukommt, und sei es nur ein Prise, welchen Wein man hinzufügt und wieviel genau, wie das Fleisch aussehen muss und wie scharf man es anbrät, wie man eine wirklich perfekte Sauce herstellt, und die Freude und Sorgfalt, die sich auch noch dem kleinsten Detail widmet – eben das Geheimnis einer guten Küche. Da muss wohl so etwas wie eine Verbundenheit mit der italienischen Kultur dazukommen, eine Erinnerung an Mammas gute Küche und die Festmähler bei der Hochzeit auf dem Dorf. Der Koch wäre ein guter Meister, der etwas davon zu vermitteln weiß, der erzählen kann, der den Schülern das Wasser im Munde zusammen laufen lässt, der die Rezepte nicht nur als isolierte Anleitungen behandelt, sondern etwas von der Welt, von dem „Wirklichkeitsverständnis“ guten Essens zu vergegenwärtigen vermag. In unserem Vergleich (der wie alle hinkt) keine leichte Sache, wenn er selbst Italien nie gesehen hat oder jenes ja auch bereits verflossene italienische Ambiente nicht mehr erlebt hat. Aber dafür ist er ja ausgebildet worden! Hoffentlich war seine Ausbildung gut genug.
Religionsunterricht, das will ich mit dem Bild zuletzt sagen, steht vor der Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler an einer fremden Erfahrung teilhaben zu lassen. Die eigene Erfahrung – McDonalds, oder, ohne Bild, das Leben in einer geldbestimmten Wirklichkeit – gibt ja den Zugang zum Italienischen, bzw. jetzt: zum Biblischen nicht her. Und da genügt es auch nicht, die Rezepte erklären zu können oder ihre Herkunft zu kennen. Die Logik biblischer Schriften beruht auf uns heute fremden Erfahrungen des Volkes Israel mit Gott; es sind diese Erfahrungen einer uns fremden Geschichte, in die jemand eingedrungen sein muss, um zu verstehen, was die Texte sagen. Was das religionsdidaktisch bedeutet, kann ich noch nicht ganz überschauen. Die Hinweise, die die semiotische Religionspädagogik gibt, sind aber nützlich: Es geht darum, die Bibel als fremde Welt zu akzeptieren und jenen Entdeckungsgeist zu aktivieren, der jedem Zeichen, jeder Spur in den Texten nachgeht und sie zu entschlüsseln versucht. Dazu sind Kinder und Jugendliche m. E. in der Lage, in den Computerspielen tun sie ja nichts anderes. Es geht auch darum, bei den Schülerinnen und Schülern die Fähigkeit zum spielerischen, assoziativen Umgang mit den Texten innerhalb der Bibel anzuregen. ‚Woran erinnert dieses Motiv? Haben wir das schon einmal so ähnlich gehört?‘ Und wenn dann ein anderer Text oder auch eine Weiterbildung der christlichen Tradition in den Blick kommt, sollte man dem nachgehen. So entsteht ein immer dichteres Netz, ein eigener Zeichenzusammenhang, in dem sich die Schülerinnen und Schüler immer sicherer bewegen. An dieser Stelle möchte ich den Hinweis einflechten, dass wir in der Kirche über bewährte Mittel verfügen, die immer schon der Einführung in das biblische Wirklichkeitsverständnis und der Teilhabe an der fremden Erfahrung dienten: die Sakramente. In der Taufe wird einer beinahe ersäuft und zu einem neuen Leben wiedergeboren wie einst Israel am Schilfmeer; die Paten stehen für die neue Familie, die neue Elternschaft im Volk Gottes. Eigentlich stehen sie für Abraham: Der Getaufte soll fortan Abraham seinen Vater nennen können. In der Eucharistie wird die Erfahrung inszeniert und mitgeteilt, dass das Scheitern des Gerechten die Lebenskraft des göttlichen Gesetzes nicht hindert und eine neue Gemeinschaft des Bundes entstehen lässt – jedenfalls auch das, diese Erfahrung der Apokalyptik. Die Sakramente lassen sich als Inszenierungen einer fremden, unerfindbaren Erfahrung verstehen, in die die Gläubigen einfach hineingenommen werden, um stets neu an ihr Anteil zu gewinnen. Sie haben mehr als alle Belehrungen das biblische Wirklichkeitsverständnis über die Jahrhunderte präsent gehalten. Die gegenwärtige Krise des Sakramentalen hängt sicher auch mit der symbolisch-korrelativen Engführung ihres Verständnisses zusammen: Wasser, Brot, Mahlzeiten, bloß als Symbole verstanden, geben das biblische Wirklichkeitsverständnis nicht her.
Sicher ist auch etwas von der Erziehung im traditionellen Judentum zu lernen. Da wurden Knaben schon im Alter von drei Jahren an die Texte der Tora herangeführt, mussten ihre Buchstaben und Sprache lernen und wurden ein Leben lang nicht mehr losgelassen. Nicht nur Inhalte wurden dabei gelernt, sondern eine Denkform, die sich auch noch bei später säkularisierten Juden beobachten lässt – das biblische Wirklichkeitsverständnis. Die Verehrung, die die Torarollen in der Synagoge erfahren, bezeugt die Dankbarkeit, die Welt auch anders sehen zu können als die gojim. Ständiges Toralesen hielt das Judentum als biblische Religion lebendig; es ist der Tora „verboten, alt zu sein“ (Rabbiner Marc-Alain Ouaknim).[30] Ohne Zweifel kann weder das geschlossene kirchliche Milieu und sein sakramentales Leben noch das Leben jüdischer Gemeinden in den Religionsunterricht versetzt werden. Aber die Tradition der biblischen Religionen gibt eine Richtung vor. Es geht hier wie dort um die Aneignung eines der jeweiligen Lebenwelt gegenüber fremden Wirklichkeitsverständnisses und der ihm zugrunde liegenden Erfahrungen. Steht aber der Prozess der Aneignung im Mittelpunkt, dann löst sich die religionspädagogisch so intenisv diskutierte Dichotomie zwischen „Subjekt“ und „Sache“ auf – nämlich in einen Prozess. Dann handelt es sich nicht mehr darum, wie ich die Sache des Religionsunterrichts in den Verstehenshorizont der Kinder hineinvermittle, und auch nicht darum, eine nicht aus der Bibel gewonnene Idee religiöser Entwicklung als Matrix zu nehmen, der sich die Inhalte der Bibel altersgemäß anzupassen haben. (Es ist sehr zu bezweifeln, ob die Stufen-Modelle religiöser und moralischer Entwicklung überhaupt mit dem biblischen Wirklichkeitsverständnis vereinbar sind. In dem Modell von Fowler hätten selbst Jesus und Paulus höchstens die Stufe 4 erreicht und vermutlich die Stufen 5 und 6 gar nicht erreichen wollen. Aber das ist ein anderes Thema.) Wenn die Welt der Bibel als fremd vorausgesetzt wird und der Religionsunterricht sich deren Aneignung zur Aufgabe macht, dann sind Sache und Subjekt in diesem Prozess immer schon vereint. Lehrer und Schüler entdecken gemeinsam Neues. Die Aneignung ist die Sache! Dabei mag jeder und jede mehr oder weniger vorankommen, wie bei einem Auslandsurlaub mit der Familie, wo Eltern und Kinder unterschiedlich tief in die Kultur des fremden Landes eindringen. Der Beitrag des Lehrers ist es nur, die Reise zu organisieren und das fremde Land in all seiner Schönheit sichtbar zu machen.
6. Gläubiges Verstehen als emergenter Prozess
Das Bild vom Urlaub täuscht allerdings. Das Land der Bibel ist nicht nur schön und angenehm, und es zu erkunden ist etwas anderes als Tourismus. Wilfried Engemann, der semiotischen Theologie nahestehend, kommentiert Stefan Alkiers Versuch, die Wundergeschichten religionspädagogisch als Entdeckungsreise in fremde Welten zu operationalisieren, mit den skeptischen Worten: „Die Wunder stoßen auf Inakzeptanz, weil man, indem man sie gelten ließe, eine Umstrukturierung gängiger etablierter Codes in Kauf zu nehmen hätte. Eben dies lehnt ‚der Mensch‘ ab. […] Mit dieser Art Wunder ist nämlich er selbst gemeint, der in ‚dieser Welt‘ im Hinblick auf seine Existenz in einer anderen Welt, im Reiche Gottes angesprochen wird. Ein Wunder zu verstehen heißt letztlich, dies (mit)zuakzeptieren. Wie kann er das wollen?“[31] Die Frage, wie Menschen eine Umcodierung akzeptieren können, die nicht nur ihr Weltbild verändert, sondern auch ihr Selbstbild, die zuletzt auf eine radikale Aufhebung ihrer selbst hinausläuft und sie sprechen ließe wie Paulus Gal 2,20: „Ich lebe, doch nicht mehr ich, Christus lebt in mir“, das ist für Engemann die „finale Frage“ an Religionsunterricht und kirchlichen Unterricht.[32] Leicht erkennen wir in ihr die alte Problematik von Natur und Gnade wieder. Oder pneumatologisch formuliert: Wie lässt sich das Kommen des Geistes, der alles neu macht, in der alten Welt begreifen? Was bleibt von der Welt und den Menschen, wenn sie durch Gottes Geist neu geschaffen werden? Ist von der Welt aus das unableitbar Neue und alles Umstürzende des Geistes überhaupt zu begreifen?
Michael Welker hat in seiner „Theologie des HeiligenGeistes“ für das Neue und Unvorhersehbare des göttlichen Geistes den Begriff der „emergenten Prozesse“gefunden. Der Begriff „Emergenz“ wird heute überwiegend in der Systemtheorie gebraucht und meint dort die Entstehung (das „Hervordringen“) von unableitbar Neuem, aber so, dass das Alte im Lichte des Neuen nun in einem neuen Zusammenhang, in einer auf das Neue hingeordneten Funktion erscheint. Das beste Beispiel dafür scheint mir immer noch das Auftreten des Menschen in der Evolution zu sein: Nichts in der Naturgeschichte deutete darauf hin, dass einmal Wesen mit Selbstbewusstsein und Sprache entstehen würden. Aber als sie einmal da waren, wurde deutlich, dass die ganze bisherige Entwicklung auf ihre Hervorbringung hingeordnet war. Von emergenten Ebenen der Realität aus „wird die Welt neu gesehen“ (N. Luhmann)[33]. Die Emergenz bietet also ein Modell für die Zuordnung von Neuem und Altem, das die Unableitbarkeit des Neuen nicht leugnet und zugleich seine Verbindung mit dem Alten festhält. Lassen sich so nicht auch Gnade und Natur aufeinander beziehen? Die ‚Natur‘ des Menschen weist gar nicht und in nichts auf die Gnade hin, im Licht der Gnade aber zeigt sich, dass die Natur auf die Gnade finalisiert ist. Um einen oben geäußerten Gedanken zum biblischen Wirklichkeitsverständnis aufzunehmen: In der Welt des Mangels und des Kampfs um knappe Güter weist nichts auf die Fülle hin, an der alle genug haben können. Erst Gottes Wort lässt in der Welt diese Fülle entdecken, so wie Jesus sie an der Pracht der Lilien entdeckte. Welker hat die alttestamentlichen Erfahrung mit Gottes Geist nach diesem Modell deuten können, etwa die frühesten Erfahrungen mit dem Geist in der Richterzeit: Inmitten von Situationen kollektiver Ausweglosigkeit und Handlungsunfähigkeit treten, unvorhersehbar und unkalkulierbar, vom Geist Gottes erfüllte Retter („Richter“) auf und wirken Einmütigkeit, Handlungsfähigkeit und Wiederherstellung der Gemeinschaft. Das Volk Israel erfährt an diesen Geistträgern neu, was es eigentlich ist und immer war: das erwählte Volk Gottes; der Abfall zu den fremden Göttern wird im Nachhinein als „Sünde“ und Ursache des Elends erkannt.[34] Interessant und für unseren Zusammenhang aufschlussreich ist es nun, dass der Begriff der Emergenz auch zunehmend Eingang findet in die Pädagogik und Bildungstheorie.[35] Hier wird in Anschluss an Überlegungen N. Luhmanns bedacht, dass Lernen eine eigenständige Leistung des menschlichen Gehirns ist und nicht einfach nur die Aufnahme gegebener Informationen. Wissen ist demnach eine Sammlung interner Operationen zur Selbstorganisation und Identitätswahrung. Das Gehirn ist ein autopoietisches System, d.h. es ist in seinen Operationen von außen nicht beeinflussbar, sondern funktioniert nach einem eigenen Code. Informationen bzw. Umweltwahrnehmungen werden darin auf von außen unkalkulierbare Weise umgeformt und mit vorhandenem Wissen in selbstreferentiellen Zirkeln verknüpft. Kurz: Es wird nicht Wissen aufgenommen, neues Wissen entsteht. Neuerungen werden nicht empfangen, sondern hervorgebracht – eben emergiert. Verknüpfen wir nun den systemtheoretisch-theologischen und den pädagogischen Gebrauch des Begriffs Emergenz miteinander, so zeichnet sich zweierlei ab:
- Die Aneignung ist nicht das Problem des Unterrichts und der Lehrenden, sondern sie vollzieht sich so und so in den Köpfen der Kinder. Was die Kinder mit den empfangenen Inhalten anfangen, ist nach dieser Theorie von außen ja nicht beinflussbar. Irgendwie werden sie die Informationen in ihr eigenes System einordnen. Daraus folgt für mich das Recht, die Kinder mit der Welt der Bibel zu konfrontieren, ohne deren Aneignungs- und Verstehensbedingungen bei der Auswahl der Inhalte und den Formen der unterrichtlichen Vermittlung vorgängig zu berücksichtigen. Auswahl und Vermittlung muss vielmehr nach der Logik des Gegenstands geschehen. Ein Unterricht, der immer schon wissen will, was und wie die Schülerinnen und Schüler verstehen können, wäre in dieser Sicht überpädagogisiert und nutzlos; er nimmt die Kinder als selbständige Subjekte des Lernens viel zu wenig ernst. Für mich folgt aus diesem Ansatz auch, dass der Religionsunterricht viel weniger lernzielorientiert sein kann als er es zur Zeit in der Regel ist. Das Lernziel kann ohnehin nicht vermittelt werden, und es scheint mir, dass es die Ausrichtung auf erwartbare religiöse Lernziele ist (Religion ist wichtig; Gott ist lieb; Jesus war ein guter Mensch), die den meisten Widerstand gegen den Religionsunterricht hervorruft.
- Wenn in der Bibel von emergenten Erfahrungen des Geistes berichtet wird, dann müssen sich diese ja auch in den Köpfen der Beteiligten zugetragen haben. Der „Code“ des biblischen kulturellen Gedächtnisses, oder in anderen Worten: der heilige Geist hat es vielleicht an sich, dass er bei Menschen emergente Prozesse auslösen kann, die zu einer Umcodierung des bisherigen Selbst- und Weltbildes führen – wenn man diesen Code nur in seiner Fremdheit zur Wirkung kommen lässt und ihn nicht von vorneherein auf das Bekannte und Selbstverständliche zurückschneidet. Letztlich kann es ja nur Gottes Geist sein, der gläubiges Verstehen bewirkt. Mit der Theorie vom Lernen als emergentem Prozess können wir jetzt womöglich etwas genauer angeben, wie er das tut. Und wir können auch begreifen, dass und wie sich der Einbruch des unableitbar Neuen und Fremden mit dem Alten verbindet, ohne es einfach zu vernichten: nämlich als Sehen der Welt von einer anderen Ebene der Realität aus, in einem emergenten Prozess.
Mehr kann ich Ihnen zu diesem Thema noch nicht sagen. An der Universität Dortmund richte ich zur Zeit mit meinem evangelischen Kollegen aus der Religionspädagogik Gerhard Büttner eine Forschungsgruppe ein, die diesen Fragen nachgehen soll. Der Gedanke aber, dass der christliche Überlieferungsprozess als eine Kette solcher emergenter Ereignisse zu begreifen ist, in dem Menschen in der Begegnung mit der Bibel immer wieder zu unableitbar neuem Wissen gelangt sind und dann mit diesem neuen Blick auf die Welt wiederum andere konfrontiert haben, scheint mit sehr anregend zu sein. Ich hoffe, dass auch viele Religionsunterrichtsstunden dieser Kette zugerechnet werden können.
[1] Dazu ausführlicher Th. Ruster, Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion, Freiburg: Herder 2000 (QD 181)
[2] Vgl. R. Englert, Haben wir die Theorien, die zu unserer Geschichte passen? Religionspädagogische Konzepte vor dem Hintergrund glaubensgeschichtlicher Erfahrungen, in:Dormeyer, H. Mölle, Th. Ruster (Hg.), Lebensgeschichte und Religion, Münster: Lit 2000, 221-236.
[3] Summa theologiae I q 2 a 2. Damit handelte sich die Theologie das niemals befriedigend gelöste Problem ein, wieso an Gottes Dasein geglaubt werden muss, wenn es doch der Vernunft erkennbar ist. Dazu ebd. ad 1 und II-II q 1 a 5.
[4] In diesem Sinn G. Faust-Siehl/ F. Schweitzer, Religion in der Grundschule. Zur pädagogischen Begründung und Gestaltung von Religionsunterricht, in: dies. (Hg.), Religion in der Grundschule. Religiöse und moralische Erziehung, Frankfurt: Arbeitskreis Grundschule – Der Grundschulverband e.V. 31994, 13-17.
[5] K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg: Herder 1976, 32f.
[6] Dass der theologisch-systematische Streit um Natur und Gnade der Sache nach auch in der Religionspädagogik geführt wurde, hat D. Berger, Natur und Gnade. In systematischer Theologie und Religionspädagogik von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Regensburg: Roderer 1998, gezeigt.
[7] Rahner kann keinesfalls eindimensional auf die Linie einer Bestätigung natürlicher Religiosität festgelegt werden; für ihn bedeutet die Begegnung mit dem Geheimnis Gottes vor allem Preisgabe aller bisherigen Daseinssicherungen. Das gezeigt zu haben ist das Verdienst der Rahner-Studie von R. Miggelbrink, Ekstatische Gottesliebe im tätigen Weltbezug. Der Beitrag Karl Rahners zur zeitgenössischen Gotteslehre, Alternberge: Telos 1989 (Münsteraner Theologische Abhandlungen Bd. 5).
[8] Englert (Anm. 2) 223.
[9] F. Schweitzer, K.E. Nipkow, G. Faust-Siehl, B. Krupka, Religionsunterricht und Entwicklungspsychologie. Elementarisierung in der Praxis, Gütersloh: Kaiser 1995, 146.
[10] Ebd. 29.
[11] Ebd. 59.
[12] Ebd. 126.
[13] Ebd. 153.
[14] Vgl. ebd. 86f.
[15] Vgl. M. Meyer-Blanck, Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik, Hannover 1995; Ders., Dressler (Hg.), Religion zeigen. Religionspädagogik und Semiotik,
Münster: Lit 1998.
[16] M. Meyer-Blanck, Vom Symbol zum Zeichen. Plädoyer für eine semiotische Revision der Symboldidaktik, in: Religion zeigen (Anm. 15), 10-26.
[17] Vgl. M. Meyer-Blanck, Der Ertrag semiotischer Theorien für die praktische Theologie, in: Religion zeigen (Anm. 15), 241-277, hier 273.
[18] S. Alkier, Jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung – Skizzen einer Semiotik des Wunderbaren, in: Religion zeigen (Anm. 15), 27-60.
[19] S. Alkier/ B. Dressler, Wundergeschichten als fremde Welten lesen lernen. Didaktische Überlegungen zu Mk 4,35-41, in: Religion zeigen (Anm. 15), 163-187, hier 174.
[20] Ebd. 166.
[21] Ebd. 169.
[22] F. W. Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden Bd. 1, Gütersloh: Kaiser 1990, 172 und passim in der zweibändigen Christologie und der vierbändigen Eschatologie Marquardts.
[23] Weiter heißt es: „Er wird zu uns kommen wie der Regen, wie der Frühjahrsregen, der die Erde erquickt“ (Hos 6,3). Vielleicht hatte Hosea am Frühjahrsregen, den man drei Tage vorher erahnen kann, einen Anhaltspunkt für die Erfahrung neuen Lebens aus Gott.
[24] Vgl. F. W. Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften. Eine Eschatologie Bd. 3, Gütersloh: Kaiser 1996, 158-161. [25] J. Taubes, Vom Kult zur Kultur. Ges. Aufsätze, hg. von A. Assmann u.a., München. Fink 1996, 44.
[26] Talmud bSynhedrin 90b; vgl. Marquardt (Anm. 24) 147-158.
[27] Marquardt (Anm. 24) 146.
[28] Ebd.
[29] Dieser Vergleich ist angeregt durch den Film „Big Night“ (USA 1996; Regie: Stanley Tucci, Campbell Scott; Buch: Stanley Tucci, Joseph Tropiano), der das Schicksal zweier italienischer Restaurants in New Jersey in den 50er Jahren schildert: Das eine hält die italienische Kochkunst hoch und gestattet den Gästen keine kulinarischen Missgriffe; seine Geschäfte gehen schlecht. Vor dem anderen stehen die Gäste Schlange, denn hier ist eine reichlich assimilierte Speisekarte ideal mit Elementen des amerikanischen Showbusiness abgestimmt.
[30] Vgl. A. Nippa/ P. Herbstreuth, Eine kleine Geschichte der Synagoge aus dreizehn Städten, Hamburg: Dölling und Galitz 1999, 96-100; das Zitat S. 100.
[31] W. Engemann, „Und dies habt zum Zeichen…“ Spezifische Gesichtspunkte der Semiotik Umberto Ecos in praktisch-theologischer Engführung, in:Religion zeigen (Anm. 15), 300-324, hier 320.
[32] Ebd. 321 ohne Bezug auf Gal 2,20.
[33] N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt: Suhrkamp 1984, 658.
[34] M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener ²1993, 38f.; 58-108.
[35] Vgl. zur Einführung H. Maturana/ F. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, München: Goldmann 1991; H. Groothuis, Viel mehr als die Summe der Teile, in: Unimagazin. Zeitschrift der Universität Zürich 4/98 (http://www.upd.unizh.ch/magazin/4-98/teile.html); Kersten: Systemisch-konstruktivistische Pädagogik, München: Luchterhand 1996; D. Lenzen, Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab?, in: Zeitschrift für Pädagogik 43 (1997) 949-968; W. Krohn/G. Küppers (Hg.), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt: Suhrkamp 1992, darin vor allem die Beiträge von G. Roth, Kognition: Die Entstehung von Bedeutung und Gehirn, 104-133; D. Baecker, Die Unterscheidung von Kommunikation und Bewußtsein, 217-268, P.M. Hejl, Selbstorganisation und Emergenz in sozialen Systemen, 269-292; S.J. Schmidt, Über die Rolle von Selbstorganisation von Sprachverstehen, 293-333.